Wie eine Feder

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Sie öffnete die Augen. Der kleine, dunkle Raum bot ihr kaum genug Platz zum Atmen und die großen, grauen Kacheln umzingelten sie und starrten sie von allen Seiten an. Das Mädchen, das jetzt in den Spiegel sah, presste sich gegen die Wand und legte ihre spindeldürren Finger um ihre hervorstehenden Hüften. Langsam ging sie näher auf den Spiegel zu und knipste das helle Licht an, das in ihren Augen brannte. Ihr müder Blick wanderte zuerst von ihren blonden Haaren, die in einem dünnen Zopf leblos herunterhingen zu ihren grauen, fast farblosen Augen, doch er verharrte nicht lange auf ihrem Gesicht. Stattdessen suchte sie ausdruckslos ihren Körper ab bis sich ihre Mine veränderte und ihre Mundwinkel nach unten zuckten. Sie hatte es schon befürchtet.“ Ich hasse dich!“, wollte sie ihr Gegenüber anschreien, doch es war nur ein heiseres Krächzen, das aus ihrer Kehle drang. Das, was sie sah, war Schuld daran, dass die Anderen sie immer noch ignorierten. Die Stille im Badezimmer machte sie jetzt nervös. Ihr wurde ganz heiß und sie schlug gegen das Waschbecken, bis ihre Hand vor Schmerz pochte. Es hatte keinen Sinn mehr.

Erschöpft setzte sie sich auf den Boden und betrachtete angewidert ihren Bauch. Fast automatisch fing sie an, an ihrer Haut zu ziehen bis ihre Finger rote Spuren hinterließen. Sie zuckte zusammen als ihr bewusst wurde, dass ihre Mutter vor der Tür stand und klopfte. Das Toastbrot aus der Küche lachte sie aus und ihr Magen verkrampfte sich. Nur schwer rappelte sie sich auf und öffnete die Tür. Ihre Mutter, welche versuchte ihre Anspannung hinter einem angestrengten Lächeln zu verbergen, rief sie zum Essen. Wieder hatte sie dieselben Gedanken wie immer, die ihr mit der Übelkeit hochkamen. Umso schwerer fiel es ihr ihre Mutter anzulächeln. Ihr Kopf rauschte als sie versuchte eine Ausrede zu finden, nicht mit ihr frühstücken zu können.Sie zog ihren dicken Pullover an und behauptete noch etwas vor zuhaben. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie lief nach draußen. Ihre Gedanken kreisten nur noch um eins - weit weg von all den Anderen zu sein, in Ruhe gelassen zu werden. Ein Stich in ihrem Magen hielt sie davon ab noch weiter zu laufen. Sie könnte jetzt einfach eine Pause machen. Die Gedanken an Essen schwirrten in ihrem Kopf herum, ihre Feinde, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Doch sie wollte nicht aufgeben. Sie wollte stark sein und sich nicht wieder runter kriegen lassen. Zu essen würde nur zeigen,wie schwach sie wirklich war. Trotzdem spürte sie wie ihre Beine sie in den Supermarkt trugen. Niemand wird etwas davon mitbekommen, dachte sie sich. Es dauerte nicht lange und ihr Einkaufswagen füllte sich. Eine Stimme in ihrem Inneren zwang sie dazu haufenweise Chips, Bon-Bons und Schokoriegel einzupacken. Sie hasste es. Ihre Feinde hatten es mal wieder geschafft sie zu kontrollieren, sie hatten sie dazu gebracht, dass sie jetzt auf der öffentlichen Toilette saß. Ein paar Sonnenstrahlen drangen durch das dreckige Fenster, das die einzige Lichtquelle war und sie fror am ganzen Körper, der sich gegen das Essen wehrte. Sie lehnte mit dem Gesicht über der Kloschüssel. Der Magen war wieder leer und ein paar Sekunden lang auch ihr Kopf. Sie blickte auf ihre Uhr- bereits zu spät, um in die Schule zu gehen. Eine Art Lächeln huschte über ihr Gesicht beim Gedanken daran, dass sie jetzt gerade nicht im übervollen Bus saß mit Menschen, die sie sowieso nicht leiden konnten. Sie hörte Schritte, wusch den Essensgeruch von ihren Händen und wollte sich auf den Weg machen, aber eine alte Dame, die am Waschbecken stand, durchstach sie mit ihren Blicken. Es war nicht das erste Mal, dass sie so angestarrt wurde, doch irgendetwas an der Frau ließ sie schaudern. Sie war nicht wie die Anderen. Beim Anblick ihrer stechend-grünen Augen und ihrer platinblonden, kurzen Haare, breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihr aus.

Unwillkürlich machte sie den Rücken gerade. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. Ihre Finger verkrampften sich, als sie nach den Papiertüchern griff. Sie wollte sich umdrehen und unauffällig den Raum verlassen, in der Hoffnung, dass die Frau sie in Ruhe lassen würde.„Ich will das nicht!“, schrie ein 11-jähriges Mädchen in ihrem Kopf. Bilder von einem faltigen, wütenden Gesicht drängten sich dazu. Bilder von dünnen Mädchen, die ihr den Rücken zudrehten. Eine Erinnerung nach der anderen hetzte sie, Vorsichtig wagte sie einen Blick zur Frau. Sie konnte ihr Herzrasen nicht kontrollieren, obwohl sie sich jetzt sich sicher war, dass es sich nicht um die Person handeln konnte, an die sie dachte. Von sich selbst überrascht, versuchte sie sich zusammen zu reißen. Die Frau hielt sie in ihrem Bann. Es war tatsächlich so, als würde ihre Ballettlehrerin vor ihr stehen und sie fragte sich, was bei einem Wiedersehen mit ihr passieren würde. Sie war diejenige, die ihr damals gezeigt hatte, dass sie ihren Körper ändern musste. Sie ließ das kleine Häuschen hinter sich und fühlte sich schmutzig beim Gedanken daran gegessen zu haben. Mal wieder hatte sie sich selbst enttäuscht. Sie hatte lange nicht mehr an ihre Ballettzeiten zurück gedacht. Sie überlegte, ob es das Richtige gewesen war mit dem Ballett aufzuhören. Inzwischen hatte sie vergessen , wie wichtig es ihr mal war. Sie blickte auf ihr Armband, das ihre Mutter ihr vor Jahren geschenkt hatte. Jedes Jahr kamen neue Anhänger dazu, letztes Jahr nach ihrem Urlaub in Frankreich ein kleiner Eiffelturm. Den kleinen, eleganten Ballerina-Anhänger hatte sie schon fast vergessen – ein winziges, glückliches Gesicht lächelte sie an. So wollte sie auch werden, doch irgendwann hatte sie nur noch Angst das Ballettstudio zu betreten. Angst vor dem strengen Blick ihrer Ballettlehrerin. Angst wieder einen Kommentar zu ihrem Bauchfett zu bekommen. Angst nicht zur Aufführung zu dürfen, das enttäuschte Gesicht ihrer Mutter zu sehen. Angst vor dem Stab ihrer Lehrerin, wenn sie auch nur eine Sekunde den Rücken nicht gerade hielt. Das war alles das Ergebnis von ihrem überflüssigen Fett. Ständig drehte sie sich um, als würde sie verfolgt werden. Sie wusste nicht einmal, wieso sie solche Angst hatte. Sie war alleine wie immer. Wenn sie jetzt verschwinden würde, würde es sowieso keiner bemerken, wahrscheinlich nicht mal ihre eigene Katze. Sie war allein. Keine Spur von den Freunden, die sie mal hatte. Sie vermisste sie, doch sie war ihnen anscheinend nicht gut genug. Nach einer Zeit waren sie ganz anders zu ihr. Keiner von ihnen wollte sie verstehen.Wäre es nicht besser, wenn sie einfach verschwinden würde?

Es war nicht mehr weit nach Hause. Der Weg, den sie vorher binnen weniger Minuten gelaufen war, kam ihr jetzt ewig lang vor. Langsam spürte sie, wie ihre Füße zu kribbeln begannen, sie konnte das Haus schon hinten sehen. Das Haus, das der einzige Ort war, an den sie gehen konnte. Sie zögerte und ahnte schon, was ihr dort bevorstand. Sie würde für ihr früheres Heimkehren keine Ausrede finden können. Sie sah furchtbar aus, ihr blasses Gesicht schien noch blasser als sonst zu sein und ihre Haare standen vom Laufen noch in alle Richtungen ab. Das Haus verschwand plötzlich hinter einer dunklen Wolke, bis alles langsam nur noch schwarz wurde, Als sie stürzte fühlte sie den Boden nicht mal, sie stürzte in eine Leere. Von Ferne drang langsam eine vertraute Stimme, die besorgt ihren Namen rief, an sie heran. Sie versuchte aufzustehen, aber sie war wie gelähmt. Sie verstand nicht was vor sich ging, vergaß alles. In ihrem Kopf herrschte ein Vakuum und das war auch gut so. Sie fühlte sich noch einen Moment sorgenfrei bis ihre Erinnerungen hochkamen und sie realisierte, dass sie in einem Bett lag, das nicht ihr eigenes war. Ihr Herz fing an schnell zu pochen und sie wollte aufstehen, konnte ihre Glieder aber kaum bewegen. Langsam löste sich die Mauer in ihrem Kopf auf. Die Realität traf sie wie ein Schlag. Ihre Schmerzen prasselten alle auf einmal auf sie ab. Sie hatte schon befürchtet, dass das irgendwann passieren würde. Sie zitterte am ganzen Körper. Eine warme Hand hielt ihre und beruhigte sie. Sie war froh jetzt, einmal nicht alleine zu sein. Ein bekannter Geruch stieg allmählich in ihre Nase und ihr wurde klar, wo sie war. Sie würde jetzt gerne mit jemandem tauschen, sie wollte ihre Augen nicht öffnen. Es war unfair. Alle würden jetzt auf sie einreden, ihre Mutter würde ihr sagen, dass es so nicht weitergeht. Sie würde mit der Ärztin reden müssen. Sie hatte es tatsächlich geschafft, so weit zu gehen. Dabei wollte sie nur so leicht sein, wie eine Feder. Sie öffnete endlich ihre Augen und blickte in das Gesicht ihrer Mutter. Zu ihrer Überraschung sagte ihre Mutter lange nichts - sie streichelte sie nur und sah sie liebevoll an. 

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⏰ Last updated: Jun 26, 2013 ⏰

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