Beziehungsweise das erste Mal, dass ich dort überhaupt jemanden antraf.
Er musste mich gehört haben, denn er sprang sofort auf und blickte mich erschrocken an. Fast, als hätte ich ihn bei etwas ertappt. Einen Moment lang schauten wir uns in die Augen, bis er sich umdrehte und mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf davonlief.
Misstrauisch sah ich ihm hinterher. Wer war dieser Junge und wieso hatte er es plötzlich so eilig? Obwohl ich die Ferien schon oft bei meinen Großeltern verbracht hatte und die meisten Dorfbewohner kannte, konnte ich mich nicht an ihn erinnern. Spontan hätte ich ihn auf mein Alter geschätzt, wahrscheinlich ein bis zwei Jahre älter. Und ein Gleichaltriger wäre mir sicher schon früher aufgefallen.
Folglich war er neu hier. Doch wer zog freiwillig in ein winziges Dorf wie dieses? Ein Jugendlicher in unserem Alter interessierte sich nicht mehr fürs Melken von Kühen. Und warum sollte eine Familie mit Kindern hier her ziehen, wenn die nächste weiterführende Schule eine halbe Stunde entfernt lag?
Der Junge verschwand hinter einem Haus und ich bedauerte, dass ich ihn nicht gefragt hatte, was er hier gemacht hatte. Ein warmer, leichter Windstoß erfasste mich und trug den Duft nach Lavendel mit sich.
Das Lavendelfeld vor mir erstreckte sich bis zum Horizont. Daneben lag der kleine Spielplatz mit der alten Schaukel, der Wippe und dem Sandkasten, der inzwischen wahrscheinlich mehr Laub als Sand enthielt. Wie lang war es wohl her, dass ein Kind das letzte Mal darin gespielt hatte?
Unwillkürlich verkrampfte sich meine Hand um den Strauß und ich biss mir auf die Lippe. Dann trat ich aus dem Schatten der Häuser und überquerte die schmale Straße. Das vertrocknete Gras war noch an der Stelle platt gedrückt, an der vorhin der Junge gesessen hatte.
Vorsichtig legte ich die Blumen vor dem Holzkreuz meiner Schwester nieder.
Das kleine Foto, das man eingeschweißt und an das Holz genagelt hatte, war bereits verblichen und man konnte die ursprünglichen Farben nur noch erahnen.
'Yasmin Meiser' stand in Druckbuchstaben auf dem Kreuz. Darunter ihr Geburtsdatum und der vermutliche Todestag. Ich schluckte beim Gedanken daran, was man mir alles über meine große Schwester erzählt hatte.
Oma hatte oft gesagt, dass ich ihr ähnlich sehen würde. Dass wir uns sowohl vom Wesen, als auch vom Aussehen her gleichen würden. Ersteres konnte ich nicht einschätzen, doch Yasmin und ich besaßen beide beinahe dieselben Gesichtszüge.
Sorgfältig drapierte ich die Blumen ordentlich vor dem Kreuz zurecht. Obwohl ich sie auch bei ihrem Grab auf dem Friedhof hätte niederlegen können, brachte ich sie stets hier her. Friedhöfe strahlten immer etwas Dunkles aus, das Lavendelfeld schien regelrecht zu leuchten und aus den umliegenden Äckern herauszustechen. "Ich bin wieder da", flüsterte ich leise und berührte das Holz mit dem Finger. Manchmal konnte ich stundenlang hier sitzen und mich in Gedanken mit meiner verstorbenen Schwester unterhalten. Dann stellte ich mir vor, wie es wäre, sie einmal so zu treffen. Wie ich sie begrüßen und mit ihr reden würde. Dabei malte ich mir aus, wie sie wohl jetzt aussehen und auf alles reagieren würde.
Die Sonne brannte gnadenlos auf mich hinunter und ich versuchte, mit meinen Haaren notdürftig meinen Nacken abzudecken.
Von dem Bild strahlte mir die kleine Yasmin entgegen. Einer ihrer Schneidezähne fehlte und ich musste unwillkürlich lächeln. Sie stahlte dem Betrachter des Fotos entgegen und ich konnte ihren Lebensmut förmlich spüren.
Und ich bereute es wieder einmal, sie nie getroffen zu haben. Denn zum Zeitpunkt ihres Todes war ich noch nicht geboren gewesen."Warst du auf dem Friedhof oder beim Feld?", fragte Oma beim Abendessen.
"Beim Feld, wie immer", antwortete ich. Auf dem kleinen Dorffriedhof war ich nur wenige Male gewesen. Und das nur für Beerdigungen oder wenn meine Großeltern mich dazu überredet hatten.
Vom Wandkalender an der Wand lächelte mir meine Schwester entgegen. Das Kalenderblatt war vor sechzehn Jahren das letzte Mal umgedreht worden. Seitdem zeigte es April an.
Ich merkte, dass Oma meinem Blick folgte. Sie seufzte leise. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich sie vermisse. Irgendwie scheint sie schon jahrelang weg zu sein, andererseits kann ich mich noch an alles erinnern, als sei es gestern passiert. Und ihr Tod schockt mich immer noch."
Manchmal zeigte meine Großmutter mir die alten Fotoalben von Yasmin. Zu jeder einzelnen Abbildung kannte sie eine Geschichte und alle Begleitumstände, unter denen das Bild gemacht worden war. Oft war es vorgekommen, dass wir innerhalb einer Stunde nur eine Seite des Albums angesehen hatten, weil sie sich so in ihre Erzählungen hineingesteigert hatte.
"Ich weiß", erwiderte ich und senkte den Kopf. Zwar hatte ich meine große Schwester nie getroffen oder mit ihr gesprochen, aber ich wünschte mir oft, sie wäre noch am Leben.
Stille senkte sich über den Esstisch und ich dachte daran, wie ich heute neben dem Kreuz gesessen und für Yasmin flüsternd die Ereignisse des letzten Jahres zusammengefasst hatte. Wie schön wäre es, wenn ich das von Angesicht zu Angesicht tun könnte. Zumindest ein Mal.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich griff nach meinem Wasserglas, um ihn hinunterzuspülen. Konnte man überhaupt jemanden vermissen, den man nie gekannt hatte? Den man nur von Erzählungen und Fotos her kannte?
"Ach, meine Kleine. Wenn du wüsstest, wie ähnlich Yasmin und du euch seid. Manchmal sehe ich sie plötzlich in dir", durchbrach Oma die Stille und stützte den Kopf in die Hände, als sei er plötzlich zu schwer geworden, um ihn zu tragen.
Ich versuchte zu lächeln. War meine Schwester also wie ich gewesen? Wie ich, nur älter?
"Ihr hättet euch bestimmt gut verstanden", fügte sie hinzu und Opa nickte langsam. Auch er schien in Gedanken an Yasmin versunken zu sein, denn sein Blick war starr ins Nichts gerichtet.
Jedes Mal, wenn jemand über meine verstorbene Schwester redete, herrschte danach bedrückte Stimmung. Keiner sprach seine tiefsten Gedanken aus, sondern saß nur still da. So auch jetzt.
Zwischen Mama und mir war es schon fast ein Tabu-Thema, über das wir uns kaum unterhielten, obwohl ich stets mehr erfahren wollte. Doch ich hielt mich meiner Mutter zuliebe zurück, weil ich wusste, wie sehr die Erinnerungen sie noch schmerzten. Und ich konnte es nicht ertragen, sie am Boden zerstört oder, wie beim letzten Mal, weinend zu sehen, was mir immer fast das Herz brach. Vor allem, weil ich sie nicht trösten konnte, da ich Yasmin nie gekannt hatte.
"Soll ich dir helfen, das Essen in die Küche zu tragen?" Jetzt war ich es, die die Stille durch meine Worte vertrieb.
"Gerne", antwortete Oma und schaute auf. Man sah ihr an, wie dankbar sie für diesen Themawechsel war.
Wortlos stapelte ich die Teller aufeinander und griff nach dem Brotkorb. Die fröhliche Stimmung von vorhin würde ich zwar nur mit Mühe wiederherstellen können, aber ich wusste aus Erfahrung, dass meine Großeltern nur etwas Zeit brauchten, um sich an die tägliche Konfrontation mit ihrer toten Enkelin zu gewöhnen.
Nicht nur, weil ich ihr ähnlich war und ständig versuchte, mehr über sie herauszufinden, sondern auch, da noch niemand den Tod meiner Schwester richtig verkraftet hatte.
Schweigend half ich ihr, die Teller abzuspülen, während im Radio Schlagersänger ihre Lieder über Liebe und Sehnsucht trällerten. Wenn Oma gut gelaunt war, summte sie stets die Melodie mit, doch jetzt gab sie keinen Laut von sich außer die gelegentliche Bitte, ihr etwas zu reichen.
Während ich in regelmäßigen Bewegungen die Teller säuberte, sah ich aus dem Fenster. Auch dem kleinen Gemüsebeet hatte die Trockenheit sehr geschadet, denn die Blätter der Tomaten hatten stellenweise einen Braunton angenommen und die Früchte hingen schlaff an der Pflanze hinunter.
"Habt ihr dieses Jahr keine Bohnen angebaut?", fragte ich, um Oma und mich selbst auf andere Gedanken zu bringen.
"Nein, aber Zucchini", erwiderte sie und deutete mit einem Kopfnicken darauf. Ihre blauen Augen ruhten weiterhin auf dem Geschirrtuch in ihrer Hand. Sie schien noch immer über Yasmin nachzudenken und ich konnte es ihr nicht verübeln.
Schließlich ging es mir nicht anders, da ich auch zu Hause oft in Gedanken bei meiner verstorbenen Schwester war. Vor allem wenn ich mich mit Mama gestritten hatte und mir jemanden wünschte, dem ich mich anvertrauen konnte und der mich immer in den Arm nahm.
Als ich nach dem Abwasch ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß mein Opa in seinem Ohrensessel, eine aufgeschlagene Zeitschrift vor sich. Er schien ganz in das Kreuzworträtsel versunken zu sein, sodass er mich entweder nicht bemerkte oder mir keine Beachtung schenkte.
Ich stellte mich vor ein gerahmtes Bild auf dem Bücherregal, das mich zu Beginn der fünften Klasse zeigte. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, dass das Foto aufgenommen worden war. Stattdessen rückte mein Abitur immer näher. Mit welchem Durchschnitt hätte Yasmin es wohl bestanden?
Leise seufzte ich. Es gab tausend Fragen, die ich ihr gerne stellen und auf die ich nie eine Antwort bekommen würde.
"Opa?", fragte ich. "Kann ich dir beim Kreuzworträtsel helfen?"
Mein Großvater gab einen zustimmenden Laut von sich und ich kniete mich neben ihn, um auch einen Blick auf das Heft erhaschen zu können. Einige Lücken hatte er noch nicht ausgefüllt und ich überflog die Beschreibungen der gesuchten Wörter. Normalerweise ergänzten Opa und ich uns gut, da er sämtliche Flüsse, Berge und Städte kannte, von denen ich noch nicht einmal gehört hatte. Ich hingegen war meistens dazu in der Lage, mir Bedeutungen aus mehreren Sprachen herzuleiten.
"Siehst du schon etwas, was du kennst?", fragte Opa, ohne aufzusehen.
"Bis jetzt nicht", erwiderte ich und beugte mich weiter über das Magazin.
Mit einer Hand strich er mir sanft über den Kopf, mit der anderen füllte er mehrere Kästchen aus. "Ich bin froh, dass du wieder da bist, meine Kleine. Auch wenn deine Mutter nicht mitkommt, ist es fast, als wäre alles wie früher."
Gerührt lächelte ich. Für diese Sätze hätte ich ihn umarmen können. "Oben rechts musst du 'Rechnung' eintragen", sagte ich stattdessen und schaute zu, wie er das Wort aufschrieb.
"Deine Oma und ich genießen die Zeit mit dir immer sehr. Schließlich sehen wir uns kaum außer zu deinem Geburtstag und im Sommer", sprach er weiter.
"Geht mir auch so", antwortete ich und berührte kurz seine Hand. Am liebsten würde ich meine Großeltern öfters besuchen, doch ich wusste, dass Mama sich weigern würde, mich mehrmals hierher zu fahren. Sie ging schon durch die Hölle, wenn sie nur den Namen des Dorfes hörte oder er auf der Landstraße angeschrieben war.
Hinter mir hörte ich Schritte und Oma trat neben mich. "Dein Opa hat Recht. Die drei Wochen sind immer drei der schönsten des Jahres."
Ich stand auf und legte einen Arm um ihre Taille, um die sie noch immer die karierte Schürze gebunden hatte. Zwar war unsere ohnehin sehr dezimierte Familie nicht vollständig, doch auch so fühlte ich mich hier geborgen und zu Hause.
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Lavendelblütenmord
Mystery / ThrillerWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...