Engel.

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"Dean!", schreit sie, während sie vor dem Jungen mit den braunen Haaren wegläuft. "Dean, komm nicht näher!" Sie dreht sich im Laufen um, ihr langes, blondes Haar peitscht ihr ins Gesicht. Sie hat Tränen in den rot geschwollenen Augen und ihre Brust bebt, doch sie läuft weiter. Der Junge läuft ihr hinterher, beide halten nicht an. Man hört ihre Schritte nicht in der kalten Nacht, würde man die beiden nicht sehen, könnte man vermuten, sie existierten gar nicht. Lautlos, wie Schatten bewegen sie sich fort, und doch ist es ein ohrenbetäubendes Gewitter der Gefühle, Wünsche und Bitten.

"Dean, bitte lauf mir nicht nach!", ruft sie noch einmal.
Der Junge schüttelt im Laufen den Kopf.
"Warum?", schreit er verzweifelt. "Lia, warum? Ich kann mich nicht von dir fernhalten!" Er stolpert fast über ein Loch im Boden, fängt sich aber noch rechtzeitig und läuft weiter. "Lia, ich brauche dich!", fleht er, fast verzweifelt.
"Ich weiß, Dean.", schluchzt sie auf. "Ich weiß." Das Letzte ist nur noch ein Wimmern und Wispern, doch er hört es trotzdem. Sie reibt sich mit den Händen die Tränen aus den Augen und läuft eine Kurve, vorbei an einem morschen Baumstamm. Der Junge läuft hinterher, rudert mit den Armen, um auf dem feuchtigen, moosigen Waldboden nicht den Halt zu verlieren.

"Mir geht es genauso, Dean, aber ich bin gefährlich, es geht einfach nicht! Ich will nicht, dass dir etwas passiert!"
Sie läuft weiter, bleibt jedoch abrupt stehen. Sie ist auf der Lichtung an der Klippe gelandet. Geht sie drei Schritte weiter, stürzt sie über hundert Meter in die Tiefe, in den Atlantik hinein.
Sie will schon zurücklaufen als der Junge auf der Lichtung erscheint und die Arme ein Stück nach vorn streckt.
Das Mädchen läuft verängstigt rückwärts, bleibt aber stehen, als sich ein Stein unter ihren Füßen löst und die Klippe hinunterstürzt.

"Dean", wimmert sie. "Bleib, wo du bist! Bleib da!" Erst hört er nicht auf sie und kommt näher, doch als er ihren flehenden Gesichtsausdruck sieht, die geschwollenen Augen und die Tränenspuren auf ihren Wangen, bleibt er stehen. Das Mondlicht taucht die Szenerie in silbernes Licht, der Mond spiegelt sich auf dem Meer und die Wellen bewegen die Reflektion sanft hin und her. Die Haare des Mädchens sehen aus, als bestünden sie aus purem Licht, sie leuchten fast magisch.

"Was soll mir denn passieren? Lia, das bildest du dir ein! Du bist nicht gefährlich!" Der Junge macht einen weiteren Schritt auf sie zu, sie reagiert mit einem kleinen Schritt zurück. Die Steine bröckeln unter ihren Schuhsohlen und weitere folgen dem ersten in die Tiefe. Unsicher schaut sie über ihre Schulter nach hinten, sieht jedoch nur den Ozean unter sich und die spitzen Felsen, die aus dem Wasser ragen.

"Dean, bitte!"

Auch der Junge hat mittlerweile Tränen in den Augen.
"Lia, ich verstehe es nicht! Wie kannst du gefahrlich sein, du bist der liebste Mensch, der mir je begegnet ist!" Eine einsame Träne läuft ihm die Wange hinunter, tropft von seinem Kinn auf den moosigen Boden, wo sie versickert.
"Erklär's mir, Lia. Erklär's mir!" Er schnieft und sie schluckt.
"Ich...", fängt sie an, doch ihre Stimme versagt. Sie schluchzt und bricht weinend zusammen. Der Junge will auf sie zukommen und sie in den Arm nehmen, doch sie schreit ihn an: "Zurück, fass mich nicht an!"
Verletzt macht er wieder einen Schritt zurück und sieht sie aus traurigen Augen erwartungsvoll an.

Sie beruhigt sich wieder und mit verweintem Gesicht erzählt sie:

"Ich bin seit meiner Geburt so. Alles, was mich berührt, stirbt. Unwiderruflich."

Sie weint wieder, die Tränen rollen ihre Wangen hinunter. "Es ist so", wispert sie.
Der Junge sieht sie entgeistert an. Er scheint es nicht zu glauben.
"Das..." Er schüttelt den Kopf. "Das kann nicht sein."

Das Mädchen sieht ihn aus glasigen, traurigen Augen an. Sie wirkt gebrochen, verletzlich.
"Es ist so." Sie dreht den Kopf, um in die Ferne zu sehen und entdeckt dabei zu ihrer Rechten mehrere Margeriten. "Ich werde es dir zeigen."
Der Junge richtet aufmerksam seinen Blick auf sie, dann zu ihrer Hand, die sich in Richtung der Blumen streckt.
"Sieh genau hin", sagt sie. Ihre Stimme ist so unendlich sanft und ruhig, aber sie hat eine Traurigkeit inne, die ihm die Sprache raubt. Er kann nichts anderes tun, als gebannt er auf ihre Hand sehen, die der Blume immer näher kommt. Kurz bevor sie die Blume berührt, wispert sie "Jetzt." Sie dreht den Kopf in seine Richtung und kneift die Augen zusammen. Eine einzige, weitere Träne quillt unter ihrem Augenlid hervor, dann schließt sie die Lücke zwischen ihrer Fingerspitze und der Blume. Sie schluchzt auf und zieht die Hand sofort wieder zurück, doch er konzentriert sich nur auf die kleine Pflanze, die ihre Fingerspitze eben noch berührt hatte. Fast sofort werden die einst wunderschönen, zierlichen, weißen Blütenblätter braun, das gelbe Innere vertrocknet gleichzeitig und der Stängel der Blume wird trocken und braun und knickt dann ein, bis die Blume leblos zwischen den anderen auf dem Moos liegt.

An Angel DiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt