Kapitel 28

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Ihr ging es schlecht. Traurigkeit bestimmte ihr Gemüt seitdem er sie abwies. Jack fehlte ihr so sehr. Elsa vermisste seine großen Hände, seine einfühlsamen blauen Augen, seine zerzausten weißen Haare... Einfach alles. Wieder hatte sie ein helles Papier in ihrer Hand und wieder hatte sie geschrieben. Im Gegensatz zu dem Gedicht von vor einigen Wochen, war dieses getränkt mit Verzweiflung und Schmerz.
Noch ein letztes Mal huschten ihre Augen über die, mit blauer Tinte geschriebenen, Zeilen. Grausam schnitten sie in ihre Seele, zerquetschen Elsas Herz und quälten ihren Kopf mit der bitteren Wahrheit.
Die Augen der jungen Königin füllten sich mit Tränen. Zu ihrer grausamen Sehnsucht nach Jack Frost gesellten sich immer häufiger Träume, in denen sie ihrem alten Freund begegnete. Der Mann mit den schwarzen Haaren, der aschgrauen Haut und den goldenen Augen, die Elsa immer entgegengestrahlt hatten, schlich sich wieder und wieder in ihr Gedächtnis.
Auch ihn vermisste sie. In Zeiten, in der die Königin, die damals noch eine Prinzessin war, geweint hatte, war ihr dunkler Freund für sie da gewesen, hatte sie in den Arm genommen und spendete ihr Trost. Seit Elsas Krönung hatte sie ihn nicht mehr gesehen, doch vermisst hatte ihn die junge Frau nur einige Wochen. Jack war eine Ablenkung für sie gewesen, doch nun, da er sie nicht einmal mehr ansah, kam dieses alte Gefühl des Vermissens wieder auf.
Das erste Mal seit mehreren Monaten wünschte sie sich ihren alten Freund wieder zu sich.
Ihr Körper zitterte unter den Schluchzern, ihre Wangen waren nass von den vielen Tränen, die sie vergoss. Auch wenn sich Elsa ihren schwarzhaarigen Freund zurückwünschte, wusste sie doch, dass er niemals zu ihr zurückkehren würde. Sie hatte ihn damals verlassen, hatte nicht auf ihn hören können, denn die eigene Angst war zu mächtig gewesen.
Elsa bemerkte nun, dass sie das weiße Papier mit den schmerzenden Zeilen darauf noch immer in ihren Händen hielt. Einige Buchstaben waren bereits verwischt und blaue Tropfen säumten das Blatt. Die Eiskönigin wollte nicht, dass es noch mehr unter ihrem Schmerz litt. Sie stand mühsam auf, bebten ihre Beine doch noch immer und waren kraftlos geworden.
Langsam zog sie die unterste Schublade ihrer Kommode auf und legte das Gedicht in den Holzkasten. Als Elsa diesen wieder schloss, kam es ihr so vor, als würde sie auch ihr Herz verschließen, würde den schmerzenden Spalt in ihrer Seele ein wenig verringern, doch noch immer tat ihr das abweisende Verhalten des jungen Hüters weh.
Weitere Schluchzer entfuhren ihrem Mund. Ihre Lippen waren nicht mehr so rot wie noch vor einigen Wochen und ihre Haut war fahl geworden. In letzter Zeit ging es ihr immer schlechter. Die schöne Frau sehnte sich nach den warmen Armen des Wintergeists, in denen sie sich stets sicher fühlte, doch seit geraumer Zeit zweifelte sie daran, ob Jack Frost sie je liebte.
Wieder spürte die Königin diese schwere Müdigkeit ihren ganzen Körper überfluten. Erneut wurden ihre Augen schwer, doch Elsa wusste genau, dass sie in einigen Stunden wieder aus ihrem Schlaf hochschrecken würde, rausgerissen aus der erholsamen Ruhe von einem erneuten Alptraum. Trotz dieses Wissens legte sich die hellhaarige Hüterin auf ihr Bett und gab sich ihrer Müdigkeit hin.

Er liebt dich nicht! Er hat dich nur benutzt!, redete ihr eine rauchige Stimme ein.
Diese Worte schmerzten ihr, doch wahrscheinlich hatte diese Stimme Recht. Trotzdem wollte es Elsa nicht wahrhaben, wollte nicht akzeptieren, dass Jack ihr seine Gefühle nur vorgespielt hatte.
Er hat dich nie geliebt und das wird er auch nie! Siehst du denn nicht, wie schlecht er dich behandelt? Ist das nicht Beweis genug dafür, dass er nichts fühlt?
Die Königin wollte diese Worte nicht hören. Sie presste ihre geschlossenen Augen noch fester zusammen, verzog schmerzvoll ihr Gesicht und wälzte sich unruhig hin und her. Tief in ihrem Inneren hatte sie das Gefühl zu ersticken, keine Luft mehr zu bekommen unter all dem Schmerz. Bilder zogen an ihren geschlossenen Augen vorbei, die dieses Gefühl nur noch verstärkten. Der Kuss vor einigen Monaten, Jacks Lächeln, das sich zu einem düsteren, abweisenden Gesichtsausdruck verzog, seine abweisende Haltung ihr gegenüber, dunkle Gestalten und die wundervollen, goldenen Augen, die sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Sie verzerrten sich zu einem grausam blitzenden Ausdruck, bohrten sich in ihr Herz und versetzten es mit Furcht.
Warum willst du mir nicht glauben? Du weißt, dass ich Recht habe, und doch weigerst du dich! Bedeutet dir dieser kleine Hüter denn soviel mehr als ich?, fragte die tiefe Stimme mit einem aggressiven Unterton.
Elsa kannte sie und wusste, zu wem die raue Klangfarbe gehörte, doch so gefährlich, so aufdringlich hatte sie die Königin nie vernommen. Er war doch immer so gut zu ihr gewesen... Hatte sie ihn mit ihrem Irrglauben an Jack verletzt? Das hatte sie nie gewollt, doch woher sollte die junge Hüterin wissen, dass es ihn noch gab?
Tränen rollten aus ihren geschlossenen Augen.
Du hättest mich suchen können.
Das stimmt, das hätte sie. Doch warum hatte sie es nicht getan? Die Königin wusste es nicht.
Erneut huschten Bilder durch ihren Kopf, doch diesmal waren sie friedlicher, positiver. Sie zeigten Szenen aus ihrem Leben als Prinzessin, erinnerten sie an all das, was ihr dunkler Freund für sie getan hatte.
Ihre Verzweiflung verebbte und mit ihr die Tränen, die sie im Schlaf vergossen hatte. Die Eiskönigin erkannte nun, wie falsch sie sich verhalten hatte. Denjenigen, den sie kaum gekannt hatte und trotzdem alles über ihn zu wissen glaubte, dem hatte sie ihr Herz geschenkt, doch ihren treuen Freund hatte sie einfach so vergessen. Es war nur verständlich, dass er Groll gegen sie hegte. Elsa hatte so gut wie alles falsch gemacht, was man hätte falsch machen können.
Die junge Frau bereute es nun, sich auf den Wintergeist eingelassen zu haben, empfand er doch sichtlich keine Liebe oder Freundschaft für sie. Die Königin wollte sich ändern, wollte ihren Blick nach vorn richten, den Schmerz, den Jack bei ihr verursachte, verblassen lassen und sich darauf konzentrieren, eine alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Gewiss würde es noch in ihrem Inneren stechen, wenn sie den Hüter sah, doch auch das würde mit der Zeit vergehen.
Suche mich, Elsa. Suche mich und du wirst mich bald finden., hauchte seine Stimme nun wieder sanft.
Zum ersten Mal seit Wochen wachte die junge Königin mit einem Lächeln in ihrem Gesicht auf. Vorbei waren die Alpträume, vorbei die angstvollen Nächte. Sie würde nach ihm suchen, um ihn endlich wiederzusehen.

Es waren keine guten Nachrichten gewesen, die Jack empfangen hatten, als er das erste Mal seit Wochen wieder sein Zimmer verlassen hatte. In der Hoffnung, dass Elsa nicht im Speisesaal saß und ihr Frühstück aß, war er den Gang entlang geschwebt und tatsächlich, sie war nicht dort gewesen. Die großen Vier jedoch hatten auf ihren Stühlen Platz genommen und schauten besorgt aus. Kaum hatten sie den Wintergeist bemerkt, prägte Erstaunen ihre Gesichter. Sie hatten ihn wohl nicht hier erwartet. Ohne ein Wort zu sagen war er zu seinem Platz geschwebt. Nach dem morgendlichen Mahl hatte North ihn mit in sein Zimmer gezogen und ihm von der Eiskönigin berichtet. Elsa war seit mehr als zwei Wochen nicht mehr aus ihrem Raum gekommen und das gefiel dem Weihnachtsmann garnicht, ebensowenig wie Jack.
Nun stand er hier vor ihrer Tür, die Hand zum Klopfen erhoben, zögerte aber doch. All die Worte der Hüter liefen ihm durch den Kopf. Toothiana hatte ihm davon berichtet, dass sich die Eiskönigin um ihn gesorgt hatte und dass sie ihn in Schutz nahm, als North von seiner groben Umgangsweise mit ihr erfuhr und ihn zurechtweisen wollte. Sie hatte ihm erzählt, wie schlecht es Elsa ging und dass sie immer blasser geworden war, bis sie letztendlich nicht mehr aus ihrem Zimmer kam.
Jack fühlte sich für all diese Vorkommnisse schuldig, bereute sein Handeln jedoch nicht. Es war zu gefährlich für sie gewesen sich mit ihm zu umgeben und doch zerdrückte die Nachricht von ihrem Leid beinahe sein Herz. Als er aus seinem Zimmer getreten war, hatte er gedacht, Elsa hätte ihn überwunden, die gemeinsame Zeit vergessen, doch dem war nicht so. Nun musste er feststellen, dass er das Gegenteil von dem erreicht hatte, was er hatte erreichen wollen.
Wieder ergriff ihn die tiefe Schwermut, die Jack schon seit geraumer Zeit plagte.
Er ließ seinen erhobenen Arm sinken und entfernte sich wieder von der weißen Holztür, hinter der sich die zusammengekauerte Hüterin befand. Der Wintergeist konnte das jetzt nicht tun, konnte sich nicht überwinden Elsa unter die Augen zu treten.
Leise schlurfend verschwand er in seinem Raum. Er hatte das alles nicht gewollt. Nicht nur dass er die Trägerin der Urhüterseele beinahe ermordet hatte, nein, nun war er auch noch Schuld am Schmerz dieser. Er musste das so schnell wie möglich klarstellen, musste ihr begreiflich machen, dass alles anders war, als sie es vermutete...

Tränen rannen in Strömen ihre Wange hinab. Vor einigen Wochen hatte sie sich geschworen, nach vorne zu schauen, Jack zu vergessen und sich ihrer Aufgabe zuzuwenden, doch schon am nächsten Tag hatten sie die Schmerzen wieder eingeholt. Elsa wollte ihren besten Freund suchen gehen, doch sie hatte nicht die Kraft dazu.
Nun saß sie, wie jeden Tag der letzten Wochen, zusammengekauert vor ihrem Bett und schluchzte in sich hinein. Wie damals als ihre Eltern gestorben waren weinte Elsa bereits seit mehreren Tagen, nur unterbrochen von unruhigem Schlaf voller Alpträume. Die Zahnfee kam einmal am Tag zu ihr und redete beruhigend auf sie ein und versorgte die Königin mit Nahrung, aber durchquerte nie die abschirmende Holztür.
Elsa zitterte am ganzen Leib, bebte unter den Wellen aus Erinnerungen und Qual, die sie nicht zu unterdrücken vermochte. Wie sehr wünschte sie sich, dass alles endlich ein Ende nahm, wie sehnlich griff sie nach dem Vergessen. Wäre sie doch nur in ihrem Schloss geblieben und wäre nicht dem Ruf des Wintergeists gefolgt... Niemand konnte sie trösten, denn keiner hatte dies je wirklich vermocht, außer Elsa's kleine Schwester Anna und diese war nicht hier.
Da spürte sie plötzlich eine große, warme Hand auf ihrer Schulter, was sie kurz zusammenzucken ließ. Dann drehte sie sich jedoch in die Richtung aus der die wärmende Hand kam...

Die verlorene HüterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt