Seltsamerweise lief mir bei seinem Anblick ein Schauer über den Rücken. Die Art, wie er mich anschaute, war fast schon unheimlich.
Ich schwang mich schnell auf den Sattel. Einerseits war ich neugierig, warum er dort stand, nachdem er eben so fluchtartig den Laden verlassen hatte, und mich schon wieder anstarrte, andererseits sagte mein Bauchgefühl mir, dass ich möglichst schnell ein paar hundert Meter Entfernung zwischen uns bringen sollte.
So trat ich kräftig in die Pedale und drehte mich erst noch einmal um, als ich um die nächste Kurve bog. Der Junge hatte sich nicht von der Stelle bewegt und blickte mir nach. Er schien mich nicht für eine Sekunde aus den Augen gelassen zu haben.
Nun wurde mir wirklich mulmig zumute und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Ob er wohl auf mich gewartet hatte? Doch ich kannte ihn nicht einmal und er hatte mich wahrscheinlich auch noch nie in seinem Leben getroffen. Wieso verhielt er sich so komisch und fragte mich nicht nach meinem Namen, wie man es gewöhnlich bei Menschen tat, die man nicht kannte?
Verwirrt schüttelte ich den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen. Hoffentlich war dies das letzte Mal, dass ich ihm begegnete. Oder zumindest das letzte Mal, dass wir kein Wort miteinander wechselten. Auf ein weiteres Blickduell hatte ich keine Lust und ich wollte endlich mehr über ihn erfahren. Ob ich das durch Christel tat oder er mir persönlich etwas über sich erzählte, spielte für mich keine Rolle. Hauptsache, ich erhielt wenigstens eine Vorstellung von ihm.
Auf meiner Stirn bildeten sich winzige Schweißperlen und als ich beim Haus meiner Großeltern angekommen war, klebte mir mein T-Shirt bereits etwas am Rücken. Aber die Gedanken an den Jungen ließen mich einfach nicht los. Noch immer erschauderte ich, wenn ich an seinen Blick denken musste, den er mir von der anderen Seite der Straße zugeworfen hatte.
"Oma, ich bin wieder da!", rief ich, nachdem ich den Schlüssel aus der Hosentasche gefischt und die Eingangstür aufgeschlossen hatte.
"Ist gut", hörte ich meine Großmutter aus der Küche antworten. "Hast du alles gekauft, was ich dir aufgeschrieben habe?"
"Ja", erwiderte ich und schnupperte. Aus der Küche drang der Geruch nach Tomatensauce und ich hoffte, dass es heute Spaghetti zum Mittagessen gab.
Als ich das Wohnzimmer durchquerte, fehlte von Opa jede Spur. Wahrscheinlich saß er gerade in seinem Arbeitszimmer im Keller, wo es kühl war, und las. Im Laufe der Zeit war aus dem Zimmer eher eine Art Bibliothek entstanden. Dort sammelte mein Großvater alte Bücher, Hefte und Briefe, was nicht zuletzt der Grund dafür war, dass die schmalen Regale aus allen Nähten zu platzen schienen.
Früher hatte ich es immer geliebt, den Tag mit Opa im Keller zu verbringen und in den vielen Büchern zu stöbern. Außerdem hatten die Fotoalben, die er ebenfalls unten aufbewahrte, schon seit meiner Kindheit eine große Faszination auf mich ausgeübt. Die Bilder darin ließen meine Schwester und meinen Vater für ein paar Momente wieder zum Leben erwachen.
In einer großen, grauen Mappe befanden sich zudem Erinnerungen an Yasmin. Darin lagen ihre ersten Zeichnungen aus dem Kindergarten, mehrere Übungshefte aus der Zeit, in welcher sie das Schreiben gelernt hatte, ein Aufsatz und ein ganzer Haufen selbstgebastelter Dinge. Auch jetzt noch könnte ich stundenlang vor der Mappe sitzen und das Bedürfnis, jeden einzelnen Wachsmalstrich mit dem Finger nachzuzeichnen, würde nicht verschwinden. Aber ich wusste, dass Opa es nicht gerne sah, wenn ich auch nur in die Nähe der Mappe kam oder ihn danach fragte. Manchmal kam es mir so vor, als wäre er noch schlimmer als Mama, die noch immer nicht mit all dem abschließen konnte.
"Isabelle, könntest du bitte den Tisch decken?", riss Oma mich aus meinen Gedanken und ich kam ihrer Bitte nach.
"Ist Opa unten im Keller?", fragte ich, während ich das Besteck auf den Tisch legte.
"Ja, er wollte noch etwas lesen", antwortete sie.
Dann hatte ich mit meiner Vermutung wohl goldrichtig gelegen. An so warmen Tagen würde ich mich auch gerne fast ausschließlich dort aufhalten. Gestern Abend hatte ich lange nicht einschlafen können, weil sich die Hitze unter dem Dachboden gestaut und somit unerträgliche Temperaturen geherrscht hatten, obwohl ich seit der Dämmerung das Fenster offen gelassen hatte.
"Kann ich Christel heute besuchen?", erkundigte ich mich, während ich Teller und Gläser auf dem Tisch verteilte.
"Selbstverständlich, warum nicht?", entgegnete Oma. "Sie ist bestimmt zu Hause. Und ich bin mir sicher, dass sie sich über einen Besuch freuen würde."
Zufrieden nickte ich. Christel war zwar gedanklich nicht immer bei der Sache, wenn man sich unterhielt, doch sie hatte eine angenehme Art. Zumindest wenn man sie nicht reizte und ihr nicht widersprach. Ansonsten konnte man sich sicher sein, dass sie nicht nur wütend auf einen war, sondern dass am nächsten Tag einige unangenehme Gerüchte über denjenigen kursieren würden.
Früher war Christel wie eine zweite Oma für mich gewesen und sie behandelte mich auch heute noch wie ein Enkelkind. Sobald ich auch nur den Fuß in ihre Wohnung gesetzt hatte, bot sie mir Tee, Gebäck oder andere Dinge an und umsorgte mich. An einigen Tagen genoss ich dies, an anderen ging es mir eher auf die Nerven, obwohl ich wusste, dass sie es eigentlich nur gut mit mir meinte.
"Gut, ich werde sie nach dem Essen besuchen", sagte ich. Dann würde ich endlich mehr über den seltsamen Jungen erfahren.
"Das ist eine gute Idee", sagte Oma und stellte den Topf voller Nudeln auf den Tisch. Während sie die Soße aus der Küche holte und ich mich setzte, näherten sich Schritte dem Esszimmer. Wenige Sekunden später betrat Opa das Zimmer, die Lesebrille noch immer auf der Nase.
"Da bist du ja wieder", meinte er an mich gewandt. "Hattest du Spaß?"
Fragend zog ich die Augenbrauen hoch. "Das kann ich nicht wirklich behaupten. Wie sollte ich auch auf dem Friedhof Spaß haben?"
Opa zuckte gleichgültig mit den Schultern und wechselte dann das Thema. "Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?"
"Ja, ich besuche Christel", antwortete ich und zwinkerte meinem Großvater zu, der die Augen verdrehte.
"Dann wirst du wahrscheinlich nicht rechtzeitig zum Abendessen zurück sein", schloss er. Da könnte er durchaus Recht behalten. Denn wenn Christel wirklich loslegte, war es beinahe unmöglich, ihren Erzählfluss zu unterbrechen. In den letzten Jahren war ich deshalb nie vor Anbruch der Dämmerung zu Hause gewesen.
"Davon gehe ich aus", mischte sich nun auch Oma ein und lachte. "Christel lässt dich sicher nur sehr ungern gehen."
Das war noch untertrieben. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Omas Freundin mir absichtlich mehr Geschichten aufdrängte, damit ich länger bei ihr blieb.
Während wir aßen, berichtete meine Großmutter mir von Christels neuen Lieblingsbeschäftigungen wie beispielsweise Tarot legen oder Kaffeesatz lesen. Dabei kam mir unser zehnjähriger Nachbar in den Sinn. Hätte ich ihm das erzählt, hätte er vermutlich den Kopf geschüttelt und mit melancholischer Stimme gesagt: Völlig durchgedreht, die Alte. Dies tat er zumindest immer, wenn er von der Frau in der Wohnung über uns redete.
Das konnte ja heiter werden.
Nachdem wir alle unsere Mahlzeit beendet hatten und ich mit Oma gemeinsam abgespült hatte, bestieg ich erneut das Fahrrad. Die Mittagshitze brannte auf mich hinab, während ich durch die leeren Straßen radelte, und ich begann, fast augenblicklich zu schwitzen, doch zum Glück lebte Christel nur wenige hundert Meter entfernt. So ließ ich die hohen Temperaturen klaglos über mich ergehen und war froh, als ich endlich Christels Haus erreichte.
Im Vorgarten spendete der knorrige Apfelbaum den bunten Blumen im Beet ein wenig Schatten, doch viele davon schienen schon vertrocknet zu sein. Die Vorhänge in dem Backsteinhaus waren zugezogen. Nichts hatte sich verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war.
Ich lehnte mein Fahrrad gegen die Hecke und lief den schmalen Weg entlang zum Haus. Im Briefkasten neben der Tür steckten mehrere Zeitungen und Prospekte. Es wirkte, als habe man ihn seit einigen Tagen nicht mehr geleert.
Verwundert zog ich die Augenbrauen hoch und drückte dann auf den Klingelknopf. Hoffentlich war Christel auch wirklich zu Hause und ich war nicht umsonst durch die Mittagshitze gefahren. Gerade als ich erneut klingeln wollte, weil sich im Inneren des Hauses nichts geregt hatte, berührte etwas mein Bein und ich zuckte erschrocken zusammen.
Doch als ich zu meinen Füßen hinuntersah, strich lediglich eine schwarze Katze um meine Füße und ich atmete erleichtert wieder aus. Dann streckte ich die Hand nach ihr aus, woraufhin sie daran schnupperte und ihren Kopf an meine Handfläche schmiegte. Lächelnd beobachtete ich, wie sie laut schnurrte und sich schließlich vor mir zusammenrollte.
Plötzlich hörte ich eine tiefe Stimme. "Hallo, Isabelle. Wie ich sehe, hast du schon mit Alegra Bekanntschaft geschlossen."
"Schön, dich wieder zu sehen", erwiderte ich und wandte mich der alten Frau zu, die im Türrahmen stand. "Seit wann hast du denn eine Katze?"
"Erst seit einem halben Jahr. Komm doch herein, Liebes." Mit diesen Worten machte sie einen Schritt zurück.
Vorsichtig stieg ich über die Katze, die keinerlei Reaktion zeigte, als ich sie mit dem Fuß anstupste, und folgte Christel ins Haus. Der Flur lag im Halbdunkeln und nur wenig Sonnenlicht drang durch die schmalen Ritzen zwischen den Vorhängen.
"Wie geht es dir? Du bist ziemlich gewachsen", meinte sie und musterte mich.
"Gut", antwortete ich. Doch gewachsen war ich schon seit über zwei Jahren nicht mehr. Vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil man im Alter bekanntlich an Größe abnahm.
"Möchtest du etwas trinken? Tee, Kaffee? Oder etwas essen?", fragte sie.
Aber ich winkte ab. "Ein Glas Wasser würde schon reichen. Wir haben eben erst zu Mittag gegessen."
"Dann setz' dich doch ins Wohnzimmer, während ich es dir hole", schlug Christel vor und ging mit schweren Schritten in Richtung Küche.
Ich hingegen ließ mich nebenan auf das alte Sofa fallen. Auf der kleinen Kommode daneben lag ein Kartenspiel, sowie mehrere Bücher. Viel hatte sich hier nicht verändert. Lediglich der Bezug des Sofas schien an einigen Stellen noch abgewetzter zu sein. Wahrscheinlich hatte Alegra ihre Krallen daran geschärft. Oder es zumindest versucht.
Als Christel mit einem Wasserglas in der Hand zurückkehrte, hatte ich es mir gemütlich gemacht und heimlich einen Blick in eines der Bücher geworfen. Doch ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon es handelte, da der Einband komplett schwarz gestaltet war und ich nichts davon verstanden hatte, was in dem Buch beschrieben war.
Bevor Christel mich in ein ewig langes Gespräch verwickeln konnte, fragte ich direkt: "Kennst du den blonden Jungen?"
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Lavendelblütenmord
Misterio / SuspensoWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...