Bruchstückhaft

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Patrick lässt seine Kontakte spielen, um einen Tisch ganz hinten, etwas abgeschieden, neben einem der großen Fenster zu bekommen. Die Kellnerin, eine hochgewachsene Blondine, mustert erst Patrick und schließlich mich.
,,Was möchten Sie?", fragt sie.
,,Einen Schoko-Doubt und eine heiße Schokolade."
,,Gute Wahl." Die Kellnerin nickt anerkennend und wendet sich dann meinem Freund zu. Dieser hat die Karte nicht einmal aufgeschlagen.
,,Das selbe."
Die Blondine stöckelt davon.
,,Schieß los", fordere ich Patrick auf.
,,Ich verstehe nicht ganz", erklärt er mir verständnislos und drückt den Rücken durch, was ihn gleich noch größer wirken lässt.
,,Erzähl mir was ich so vergessen habe. Mit deiner Frau und so."
Ich rutsche auf der gepolsterten Bank herum, um eine bequeme Sitzposition zu finden.
,,Meine Frau? Die müsstest du nach Backs Bericht noch kennen. Du bist mit ihr nämlich aufs gleiche College gegangen. Kyla Broughton. Nun ja. Jetzt Kyla West."
Kyla Broughton: Lackschwarzes, wallendes Haar, helle Strähnen und übertrieben viel Make-up. Rote, volle Lippen, hohe Wangenknochen und große, grüne Glubschaugen. Mit anderen Worten: eine wahre Schönheit.
Und nicht zu vergessen: klug. Sie war auf dem College immer einen Notenpunkt besser als ich. Ich wollte nie besonders schlau sein, doch als ich Kyla Broughton kennenlernten, habe ich einfach alles daran gesetzt sie in mindestens einem Fach zu schlagen.
Vergebens.
Nur in Kunst und Philosophie war ich die Beste, was allerdings daran  liegen könnte, dass Kyla Musik und Wirtschaft gewählt hat.
Beliebt, schön, klug... und mit Patrick verheiratet.
,,Kannst du dich an sie erinnern?"
,,Bruchstückhaft", lüge ich. ,,Woher kennt ihr euch?"
,,Vor einigen Jahren habe ich der Mechanik den Rücken zugekehrt und mich der Wissenschaft gewidmet. Da ich noch nicht wusste in welche Richtung der Wissenschaft ich mich orientieren sollte, habe ich an vielen Vorlesungen teilgenommen. Bei einer haben ich Kyla kennengelernt."
,,Sie ist Wissenschaftlerin geworden?"
,, Ja. Teilchenphysikerin. Sie gibt sogar Unterricht als Professorin."
Ich höre den Stolz in Patricks Stimme, doch noch etwas anderes schwingt bei seinen Worten mit. Aber ich kann nicht erahnen was es ist.
,,Und in welche Richtung hast du dich nun orientiert?"
Dieses Thema fasziniert mich sehr, da ich, vor gar nicht mal so langer Zeit, selbst Physikerin oder auch Biologin werden wollte. Wie ich zu dem Job einer Modeberaterin abschweifen konnte, ist mir bis heute nicht klar.
,,Seid zwei Jahr studiere ich Physik; jetzt habe ich vor mir einen Schwerpunkt zu setzen. Entweder Strahlenbelastung und Strahlenschutz, oder die Astrophysik."
Ich muss lachen. ,,Zwei völlig unterschiedliche Welten."
,,So unterschiedlich sind sie gar ni-"
Ich hebe die Hand, um Patrick zu unterbrechen.
,,Ich möchte mich jetzt nicht mit dir, über die Unterschiede, die untergeordneten Fachrichtungen und die wenigen Überschneidungen dieser beiden Bereiche, unterhalten."
Er schließt den Mund und grinst amüsiert. Dann fragt er mich: ,,Na gut. Was willst du noch wissen?"
,,Wie lange seid ihr jetzt schon verheiratet?" Ich lege meinen Kopf schief, da er mir auf einmal ein paar Kilo zu schwer vorkommt und fasse mir an die Schläfe, weil ich plötzlich stechende Kopfschmerzen habe. Unterdessen kommt kurz die Bedienung vorbei, um unsere Bestellungen abzuliefern.
,,Seid über einem Jahr", meint Patrick grübelnd, nachdem sie schwungvoll abgegangen ist. ,,Und wie geht es dir so?"
,,Ganz toll!", meine ich sakastisch. ,,Ich wache auf und kann mich an die Hälfte meines Lebens nicht mehr erinnern. Mein Bruder und Theresa hassen mich und meine Eltern sterben für mich - gewissermaßen - ein zweites Mal. Back muss ich erklären, dass ein Pferd in mich gefahren ist und mein Verlobter ist so kontrollsüchtig, dass er sogar meine Maschine auf dem Gewissen hat. Nicht zu vergessen, dass ich meine Tante, die eigentlich in Australien stecken sollte, traf, während sie sich für das Wohl der Gemeinheit einsetzte."
,,Du hast deine Freundinnen vergessen", fügt er in bester Stimmung hinzu.
,,Meine Freundinnen?" Ich hebe beide Augenbrauen, geschockt von seiner vor Spott triefenden Anmerkung.
,,Sag nicht, dass sie sich noch nicht bei dir gemeldet haben? Und noch niemand hat dir etwas erzählt?"
Ich schüttel meinen schweren Kopf. Er ist noch schwerer, als meine Lieder es im Krankenhaus waren.
,,Kate und Jade!"
Mein Körper durchfährt ein kleiner Stromstoß, wie wenn jemand mit Wollsocken über einen Teppich läuft und sich anschließend an mir entlädt.
,,Das wären dann wohl Schnuckelhasi und Knuffel. Jetzt muss ich nur noch rauskriegen wer Schatzi ist." Ich seufze genervt. ,,Sind die beiden so schlimm?"
,,Strohdumme, arrogante, hochnäsige und bösartige, Läster - Puten, die nur an deinem Geld interessiert sind und deren manikürte Nägel zu fein dafür sind, ein Brot aus dem Backofen zu holen." Patrick lehnt sich in einer Art und Weise zurück, die besagt, dass dieser Platz nur ihm gehört und er denjenigen, der vorhat ihn von besagtem Platz zu verdrängen, einzig und allein mit seinem Verstand bei Seite schaffen wird. Selbst sein Lächeln drückt dies ohne Unterbrechung aus:
Ich bin viel klüger als du! Das macht mich unbesiegbar! Das macht mich gefährlich! Nimm dich vor mir in Acht! Ich bin dir weit überlegen! Mich kannst du nicht übertrumpfen!
Nur ich weiß, wie gepielt all das ist. Eine verdammte Maske verbirgt den Patrick, den ich vor fünf Jahren so gut kannte.
Ich muss wegschauen und ihn leise bitte das Thema zu wechseln.
,,Schönes Wetter, nicht wahr?"
Ich werfe einen kurzen, teilnahmslosen Blick aus dem Fenster und muss lachen. Patrick mochte schon immer den Regen und die Nässe.
,,Bei unserem letzten Treffen war es noch schöner." Ich grinse, dann fällt mir ein, dass ich mich korrigieren muss: ,,Ich meine unser letztes Treffen vor 5 Jahren. An dem Tag an dem ich die Idee mit dem Rosentatoo hatte. Erinnerst du dich noch daran?"
,,Bruchstückhaft", zitiert er mich nachdenklich. ,,Du weißt wirklich noch welches Wetter an jenem Tag war?"
,,Klar. Für mich ist das ja nur ein paar Wochen her. Es regnete heftig. Und ich meine richtig heftig. Als würde man in einer Minute den Inhalt von 20 Wassersilos auf das Haupt bekommen. Ich war bis auf die Knochen durchnässt und wollte nur unters Dach, während du wie wild im Regen herum getanzt bist. Drinnen hast du mir dann erzählt du hättest einen Regentanz aufgeführt, damit es noch mehr regnet und schließlich haben wir uns fast eine Stunde über die Vor- und Nachteile dieser plötzlichen Sinnflut unterhalten."
Patrick ist völlig in Gedanken. Er fixiert einen Punkt links von sich und sein abwesender Gesichtsausdruck verrät mir, dass er mit seinen Gedanken weit weg ist. Als würde er an etwas wundervolles, lang zurückliegendes denken und etwas daran bereuen.
Ich schnippe seine Nase mit meinem Daumen an.
,,Hey! Hast du mir überhaupt zugehört?"
Er rammt seine Handflächen in seine Seiten und entrüstet sich: ,,Natürlich! Hältst du mich für so unhöflich?"
Am liebsten hätte ich 'Bruchstückhaft' gesagt, aber da er auf meine Frage auch verhältnismäßig normal geantwortet hat, reiße ich mich am Riemen.
,,Nein. Doch du warst plötzlich ganz woanders! Woran hast du gedacht?"
Patrick schweigt. Und wie immer wenn er schweigt, weiß ich, dass ihm die Antwort entweder zu peinlich ist oder er sich die Wahrheit noch selbst nicht ganz eingestanden hat.
Einmal hat er mir jedoch die Worte verweigert, um mich nicht zu verletzen... aber das war nur ein einziges Mal und ist schon lange her.
,,Woran denkst du?" Patrick mustert mich interessiert.
,,Das ist ja wohl unerhört! Du stellst mir die selbe Frage, wie ich dir keine Minute zuvor und verlangst, dass ich spreche, aber selbst sprichst du nicht!", rufe ich empört.
Das Pärchen, an dem Tisch der uns am nächsten steht, beginnt nun uns recht auffällig zu beobachten.
Die Frau ist um die dreißig, trägt eine weite, rosa Bluse, dunkelblaue Jeans und teure, hochhackige Pumps. Ihre Aufmachung scheint generell ziemlich teuer zu sein.
Der Mann hingegen sitzt nicht nur entspannter, seine Kleidung sieht auch aus, wie aus dem Second-Hand-Shop von nebenan. Womit ich nicht sagen will, dass er schlecht aussieht! Keineswegs! Seine straffen Gesichtszüge, die wachen Augen und die kurzen, schwarzen Haare lassen ihn sehr jung und attraktiv wirken, was man von seiner Frau nicht gerade behaupten kann. Die vielen Schichten Make-up lassen ihre Haut purös und künstlich erscheinen und die eng anliegenden Kleider betonen nur ihre molligen Rundungen.
Alles in allem, lässt sich der erster Eindruck einfach beschreiben: billig.
Patrick ist meinem Blick gefolgt und grinst mich bis über beide Ohren an. Es ist klar, dass er das gleiche denkt wie ich.
Andererseits muss die Frau irgendetwas anziehendes haben, sonst hätte dieser junge Mann sie bestimmt schon längst verlassen. Auf ihr Geld scheint er es nicht abgesehen zu haben, da er, mit seinem guten Aussehen, auch hübschere und reichere Damen an Land ziehen könnte.
Selbst ich wäre nicht abgeneigt, würde nicht gerade ein, noch viel markelloserer und schönerer,  junger Mann direkt vor meiner Nase sitzen.
,,Trägt Kyla eigentlich immer noch so viel Make-up?", frage ich ihn. ,,Fass es nicht als Beleidigung auf, aber sie wirkte dadurch..."
,,...billig", vollendet Patrick meinen Satz. ,,Wie die Frau zu meiner Rechten?"
Nur ich merke, wie mein Freund leicht mit dem Kopf zu dem Pärchen hinüber nickt.
Ich beschließe erneut das Thema zu wechseln: ,,Wann hast du beschlossen deine Haare so zu tragen?"
,,Wieso? Gefällt es dir nicht?"
,,Nein! Ganz im Gegenteil. Du siehst gut aus. Als hätte jede Strähne ihren eigenen, ganz besonderen Platz."
Wir lachen herzlich und wieder beäugt uns das Paar kritisch.
,,Das freut mich. Kyla hat mich auf die Idee gebracht, es so zu tragen."
Ziemlich genau drei spitze Dornen einer blutroten Rose bohren sich in mein schlagendes Herz. Nicht sonderlich tief, doch tief genug um mir unendliche Schmerzen zu bereiten.
Ich schlucke das Gefühl samt Gedanken hinunter.
,,Und du? Deine Haare sind um einiges länger und... voluminöser."
Patrick streckt eine Hand nach meiner, durch die Nässe aufgeplusterten, roten Mähne aus, zieht sie auf halben Weg jedoch zurück.
Wiederwillig muss ich mich schütteln.
,,Ach Pat! Ich kann mich doch nicht daran erinnern, wann ich angefangen habe meine Haare so zu tragen! Genauso wenig, wie ich mich daran erinnern kann für die Gemeinheit zu arbeiten. Geschweige denn daran, dass du verheiratet bist und ich verlobt. Das ist alles neu für mich."
,,Oh." Patrick wird rot wie eine überreife Tomate. ,,Sieht auf jeden Fall gut aus... Du hörst dich aber nicht sehr glücklich an..."
Ich raufe mir wild die Haare und fahre dabei bestimmt hunderte Knoten hinein.
,,Ich kann einfach nicht verstehen warum ich Matthew geheiratet habe?"
Ein Ausdruck, den ich noch nie zuvor an ihm gesehen habe, tritt in seine Augen.
,,Du weißt es!? Du weißt warum!?"
,,Ich habe nur eine Ahnung..."
,,Dann erzähl mir von deiner Ahnung!"
,,Kann ich nicht..." Patrick schüttelt den Kopf und Wut bäumt sich in mir auf.
,,Gut! Von mir aus!" Ich schieße hoch, stolpere und stoße den dritten - unbesetzten - Stuhl des Tisches um, an dem das so unterschiedliche Pärchen sitzt.
,,Was glotzen sie den so unhöflich!?", schnauze ich diese an.
Weitere Leute drehen sich zu mir um, aber das ist mir egal!
Patrick greift nach meinem Arm, um mir hoch zu helfen, doch ich schubse ihn weg. Ich habe keine Lust auf seine sakastischen Bemerkungen und sein amüsiertes Lächeln.
Ich rappel mich also ohne fremde Hilfe wieder auf und stürme hinaus. Ich habe Glück. Patrick wird von einem breiten, ganz in Schwarz gekleideten Mann aufgehalten, der ihn des Betrugs bezichtigt, da wir das Cafe verlassen wollten ohne zu bezahlen.
Er habe diese Masche nun schon oft genug erlebt, meint der Mann. Er wolle das ihm zustehende Geld und Patrick sei wahrlich ein armer Schlucker, dass er ihn, eines so geringen Betrags wegen, beklaut.
Ich grinse bösartig vor mich hin und werfe einen letzten Blick auf meinen alten Freund, seine maßgeschneiderte Kleidung und seinen blonden Schopf. Schließlich renne ich zum Kunstzentrum, um mein Motorrad zu besteigen und fortzufahren.
Tatsächlich hält der breite Mann Patrick entweder die halbe Stunde auf, sein Auto ist liegen geblieben oder er hat es einfach aufgegeben mir nach zu laufen.
Ich stelle meine Maschine in der Garage ab und betrete das Haus. Eine blöde Idee, wie ich feststellen muss, da Matthew sofort anfängt, wegen dem funktionieren Motorrad, den fehlenden Schlüsseln und meiner viel zu frühen Ankunft, herumzutoben. Oben drauf setzt er noch meine, leider Gottes anwesende, Impertinenz.
,,Ich will dich nicht mehr heiraten!", fauche ich bissig.
Meine Worte haben den gewünschten Effekt: Matthew bekommt keinen weiteren Ton heraus.
Ich stapfe hundemüde die Holzteppe zum Dachboden hinauf und schlafe die dritte Nacht in Folge auf der braunen Couch.

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