3 ~ Estrapoll

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Als sie alle im Wohnzimmer sassen, holte die Ältere der beiden Zwillinge, Onyxia, ein graues Buch hervor. Es sah alt aus und die fleckigen, gelben Seiten knistersten, als Onyxia das schwere Buch aufschlug und nach der richtigen Seite suchte.

Mysteria, die vorher kaum einen Laut von sich gegeben hatte, erinnerte die Zwillinge, dass sie noch eine gelenkige Zunge und funktionierende Stimmbänder hatte, denn die Fragen ratterten schnell herunter, als wäre eine Bombe explodiert. "Ich verstehe nicht... Ich kann zaubern? So wie Harry Potter? Und was ist das für ein Anhänger? Seid ihr auch Hexen? Wie lange verheimlich ihr mir das schon? Sind Hexen wirklich unsterblich? Kann ich auch sowas, wie die Zeit anhalten? Haben Hexen auch so Karten und eine Kugel? Brauchen sie zum zaubern nicht einen Zauberstab? Was habe ich im Wald gemacht? Wieso macht ihr das ganze ausgerechnet heute? Habt ihr die Elemente wirklich kontrolliert? Aber-"

"Mysteria, du könntest eine ganze Serie von Fragebögen für uns schreiben!", grinste Lithium und unterbrach damit den Schwall von Sätzen.
"Na kein Wunder! Aber Li, wir waren zu zweit, als Nonna uns alles erklären musste. Ich versteh schon, warum sie unsere Münder zugeklebt hatte", grinste Onyxia, die die richtige Seite gefunden hatte.

Sie winkte Mysteria zu sich und zeigte auf eine gemalte Zeichnung einer jungen Frau.
Ihr Alter schätzte Mysteria auf etwa 18 Jahren. Ihre Haare wellten sich und umrahmten das schöne, herzförmige Gesicht. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihren Mund. Sie machte einen freundlichen, aber schüchternen Eindruck. Nur die dunklen, melancholischen Augen schienen eine Tiefgründigkeit und etwas Verborgenes auszustrahlen.
"Das ist Catherine Elena Woodrow. Sie war die erste Estrapoll der Woodrows."
"Was ist eine Estrapoll?", fragte Mysteria und sah Onyxia mit ihren neonblauen Augen fragend an. Diese lächelte. "Jemand, wie du und ich. Jemand, wie Lithium. Estrapolli sind Hexen. Estrapoll ist die Einzahl und Estrapolli die Mehrzahl. Dieses Buch hier erzählt dir alles über das Leben der Hexen und was man braucht für bestimmte Zauber. Ausserdem gibt es auch Auskunft."

Während die wohlklingenden Worte Onyxias schmalen Lippen entwichen, blätterten ihre Finger die Seiten um und Mysterias, vor Begeisterung und Aufregung glitzernden Augen, blieben an den von Hand gemalten Bildern, hängen und gelegentlich brannte sich ein Wort in ihr Gehirn ein.

Hexe.
Pentagramm.
Liebe.
Blut.
Schattenwesen.

"Worüber geben sie Auskunft?", fragte sie, als Onyxia nicht mehr weitersprach.
An ihrer Stelle antwortete Lithium: "Über die Kinder der Nacht und des Mondes. Über alle Wesen der Dunkelheit."
Das kleine Mädchen sah sie mit grossen Augen. Noch grösser, als suppentellergross.
"Es gibt Vampire und Werwölfe? Und was ist dann mit Geistern?" Ihre Cousine nickte und Mysteria sah nach draussen, als hoffte sie, ein Schattenwesen zu sehen.
Schattenwesen.
Sie musste lächeln. Sie war ein Schattenwesen. Eine Estrapoll.
Ihrer Meinung nach, konnte das Wort nicht geheimnisvoller sein.

Die Chroniken der SchattenwesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt