"Hey, Charlotte! Warte auf mich! Charlotte!!!" Ich schrie mir fast die Seele aus dem Leib, aber die Rothaarige ignorierte mich weiterhin. Nein, sie beschleunigte sogar; so kannte ich sie ja gar nicht. Bisher war sie immer so nachsichtig gewesen, und nun? Plötzlich lässt sie mich im Stich. Wenn es wichtig wird. Ganz ohne Grund.
Ich hasse diese Sorte Leute.
Ah, ich heiße übrigens Riko. Halbjapanerin, 15 Jahre lang, will mit meiner Tante Charlotte nach England reisen. Sie ist 17. Nicht so alt für eine Tante, ich weiß. Egal.
Ich rufe ihr wieder nach:"Charlotteeee!! Bitte, warte doch auf mich!" Diesmal wird sie tatsächlich langsamer, bis sie schließlich stehenbleibt. Langsam dreht sie sich um. "Na endlich. Puh, danke, Charlotte, ich weiß wirklich nicht, was los war, wahrscheinlich hast du mich auch gar nicht gehört..." Charlotte sieht mich nur an, erwidert nichts, unterbricht mich nicht, regt sich nicht auf. Dabei ist sie immer so temperamentvoll. Jetzt sieht sie mich aber einfach nur ruhig an. Ich kenne diesen Blick nicht. Und auf einmal wird mir klar, warum: Sie hat mich noch nie so angeschaut, als ob sie mich nicht erkennen würde.
Aber genau das tut sie jetzt.
"Ch-Charlotte? Hey, ich bin's, Riko, weißt du noch, wir wollten nach London..." Ich stottere. Es ist schlimm, von der eigenen Tante nicht erkannt zu werden, vor allem vor einem gemeinsamen Urlaub nach England. "Riko?" Endlich sagt Charlotte etwas. Ganz leise. Irgendwie...furchterregend. "Ja, genau! Die bin ich. Riko. Und du bist meine Tante. Charlotte Brown. Komm schon, wir sind sogar Nachbarinnen!" Ich verstehe das nicht. Charlotte sieht mich immer noch so komisch an. Und langsam beginne ich zu glauben, dass sie mich für eine Irre hält. "Charlotte, bitte...", flehe ich sie an. "Entschuldigung. Ich kann mich nicht an Sie erinnern. Ich muss jetzt leider los, auf Wiedersehen." Sie sieht mich noch ein letztes Mal an, dreht sich um und geht. Sie geht einfach. Weg. Weg von mir.
Ich bleibe mit offenem Mund zurück.
