Kapitel 7

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"Der alljährliche Besuch. Du weißt ja", entgegnete ich und zuckte mit den Schultern.
"Allerdings. Willkommen auf dem Land." Mit diesen Worten streckte er mir die Hand hin, doch ich tat, als bemerke ich sie gar nicht.
Mir fiel auf, dass Uwe sich seit dem letzten Jahr sehr verändert hatte. Nicht nur, dass sein Haar lichter geworden war, sondern auch, dass er ein paar Kilo zugenommen hatte. Er hatte nun wortwörtlich einen Bierbauch. Unter seinen Augen hatten sich große Tränensäcke gebildet, aber ich war mir nicht sicher, ob dies eventuell mit seiner Gewichtszunahme zu tun hatte.
"Möchtest du etwas zu trinken?", erkundigte er sich. "Cola, Bier?"
"Nein, danke", winkte ich ab. Ich war zwar sechzehn, allerdings kein großer Fan von Bier und anderen alkoholischen Getränke, weshalb ich keinerlei Bedürfnis danach verspürte. "Ich bin eigentlich gekommen, um mit Tristan zu sprechen."
Erstaunt zog der Wirt die buschigen Augenbrauen hoch. "Mit Tristan? Warum denn das?"
"Ich habe ihn gestern getroffen, hatte aber keine Gelegenheit mich mit ihm zu unterhalten", erwiderte ich. Immerhin entsprach das beinahe der Wahrheit.
"Na dann komm mal mit", brummte Uwe und bedeutete mir mit einem Nicken, ihm zu folgen.
Hinter ihm stieg ich die Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Dort befanden sich nur zwei Zimmer. Die Tür zu einem der beiden war angelehnt und ich erkannte, dass es das Bad sein musste. An der anderen Tür klebte ein Poster einer Band, deren Name ich noch nie zuvor gehört hatte. Dahinter verbarg sich mit Sicherheit Tristans Zimmer. Sofort klopfte mein Herz vor Aufregung schneller und ich betete, dass mein Besuch nicht umsonst sein würde. Uwe klopfte ein Mal. "Tristan, Besuch für dich!"
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür und ich reckte neugierig den Hals, doch Uwe versperrte mir die Sicht. "Frauenbesuch", fügte er noch hinzu, bevor er sich zu mir umdrehte und mich an sich vorbeiließ.
Die Jalousien waren fast bis zur Hälfte hinuntergelassen und ich brauchte einen Moment, bis sich meine Augen dem Halbdunkeln angepasst hatten. An den Wänden hingen mehrere Poster der Gruppe, welche auch die Tür zierte, und auf dem Boden lagen mehrere Hefte, Zeitungen und Bücher verteilt.
Und in der Mitte davon saß Tristan. Seine blauen Augen musterten mich misstrauisch und ich schluckte. Noch konnte ich einen Rückzieher machen.
Aber dann ging ich weiter in das Zimmer hinein und sah mich um. Das Bett in der Ecke des Zimmers war ungemacht und auf dem Schreibtisch konnte man gerade noch ein Teil des Laptops unter diversen Heften und Blättern erkennen.
Nachdem Uwe die Tür hinter mir geschlossen hatte, räusperte ich mich. Wie sollte ich nur ein Gespräch in Gang bringen? Sämtliche Formulierungen, die ich mir vorhin überlegt hatte, erschienen mir plötzlich unpassend. Ich fühlte Tristans Blick auf mir, was mich noch nervöser machte.
Langsam drehte ich mich zu ihm um. Er begann, ein paar der Zeitschrift aufeinander zu stapeln und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Stille war mir erneut unangenehm und ich biss mir auf die Lippe, während ich fieberhaft darüber nachdachte, was ich sagen sollte.
Doch irgendwann konnte ich das Schweigen nicht länger ertragen. "Hallo, ich bin Isabelle", sagte ich und er schaute mir in die Augen.
Für einen Moment erstarrte er in seiner Bewegung, bevor er die Hefte aus der Hand legte und schließlich langsam nickte. "Ich weiß."
Perplex schaute ich ihn an und öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen. Doch ich schloss ihn sofort wieder, weil ich nicht wusste, was ich auf Tristans Antwort erwidern sollte.
Woher kannte er meinen Namen? Bevor ich ihn an der Gedenkstätte meiner verstorbenen Schwester gesehen hatte, hatten wir uns noch nie getroffen. Er hatte wahrscheinlich nicht einmal gewusst, dass ich in den Sommerferien stets meine Großeltern besuchte.
Tristan zuckte mit den Schultern und legte dann die Hefte beiseite. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen, doch ich konnte auch gar nichts anderes tun, als ihn erstaunt und verwirrt anzusehen. Sein neutraler Gesichtsausdruck machte es unmöglich, seine Gedanken und Gefühle zu erahnen. Jeder Glücksspieler hätte sich ein Beispiel an ihm nehmen können.
"Ich denke, du weißt wie ich heiße", sagte er schließlich.
Damit hatte er durchaus Recht. Langsam nickte ich.
"Warum bist du hier?" Seine weiche und zugleich dunkle Stimme ließ mich frösteln.
Was sollte ich darauf antworten? Ich hatte nicht erwartet, dass Tristan so schnell und direkt zum Thema kommen würde. Wahrscheinlich weil ich nicht einmal geglaubt hatte, dass er überhaupt mit mir reden würde. Gerade deshalb kam die Frage so unerwartet, dass ich nur die Augen aufriss, an die Decke starrte und so tat, als würde ich überlegen. Insgeheim musste ich mich erst wieder sammeln, um in der Lage zu sein, einen klaren Gedanken zu fassen.
Noch immer spürte ich, dass Tristan mich beobachtete und jede meiner Bewegungen verfolgte. Meine Hände begannen, vor Nervosität zu schwitzen und ich suchte fieberhaft nach etwas, was ich entgegnen konnte. Doch so sehr ich es auch versuchte, mein Kopf schien wie leergefegt zu sein.
Irgendwann begann Tristan, leise zu lachen. "Was ist denn los?"
"Nichts", brachte ich mühsam hervor. "Absolut nichts, alles ist bestens."
Wenn meine Stimme nicht so piepsig gewesen wäre, hätte es vielleicht sogar glaubwürdig klingen können. Doch das tat es nicht und ich sah beschämt zu Boden und steckte die Hände in die Taschen meiner Shorts.
"Warum bist du hier?", fuhr er fort.
"Weil wir gestern nicht miteinander gesprochen haben", erwiderte ich.
"Das stimmt." Er ließ die Worte im Raum stehen, als wolle er mir die Chance geben, an sie anzuknüpfen und darauf einzugehen. Doch ich schwieg und er redete weiter. "Vielleicht hätte ich im Supermarkt etwas sagen sollen. Unter Umständen auch schon davor, als ich dich das erste Mal gesehen habe."
"Es war unheimlich", sagte ich und erschauderte beim Gedanken an seinen eindringlichen Blick, mit dem er mich gestern gemustert hatte.
"Das tut mir Leid. Ich hatte nur das Gefühl, dass ich noch nicht bereit war, mit dir zu sprechen", gab er zu.
"Warum?", fragte ich sofort. Er klang fast, als würde er mich schon ewig kennen und nun erst einmal verdauen müssen, dass er mich getroffen hatte. Einerseits ließ diese Überlegung die Sache gruselig erscheinen und erzeugte eine Gänsehaut auf meinen Armen, andererseits machte es mich auch neugierig.
"Lange Geschichte", erwiderte er.
So lang konnte sie nicht sein. Immerhin hatte ich erst vor zwei Tagen von ihm erfahren. "Zur Not nehme ich auch die Kurzfassung."
Jetzt erschien ein Lächeln auf Tristans Lippen und zauberte ein kleines Grübchen in seine Wange, was seinem kantigen, männlichen Gesicht etwas Jungenhaftes verlieh. "Möchtest du dich hinsetzen?"
Ich nickte und schob mehrere Hefte zur Seite, bevor ich mich niederließ, den Kopf in die Hände stützte und darauf wartete, dass er mir alles erklärte.
Nun löste er seinen Blick von mir und schaute zur Decke hinauf. "Wo soll ich anfangen?", murmelte er.
"Am besten am Anfang", erwiderte ich und schlug meine Beine übereinander.
"Das ist natürlich immer von Vorteil", entgegnete er und lächelte mir kurz zu, bevor er sich mit der Hand durch die blonden Haare fuhr. "Was weißt du denn schon über mich? Dann muss ich dir nichts erzählen, was du bereits kennst."
"Nicht viel", gab ich zu. "Deswegen bin ich auch hierher gekommen."
"Vor etwa einem dreiviertel Jahr, ich glaube im Januar, hat Uwe mich als Pflegekind bei sich aufgenommen. Die meisten Dorfbewohner meinen zwar, dass er mich adoptiert hätte, aber das stimmt nicht. Vor allem die älteren Leuten hier verstehen den Unterschied nicht, wenn ich versuche, es ihnen zu erklären. Deshalb belasse ich es mittlerweile einfach dabei." Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und ich nickte. "Zuerst fand ich es todlangweilig, in diesem Dorf zu leben. Es gab niemanden in meinem Alter und um zum nächsten Ort zu gelangen, musste ich entweder den Bus nehmen oder mit dem Fahrrad fahren. So ländlich hatte ich mir es hier doch nicht vorgestellt. Ich hatte massenhaft Freizeit, mit der ich nichts anzufangen wusste. Einfach, weil es nichts gab, was ich tun konnte."
Bei seinen Worten musste ich grinsen. Immer wenn ich nach den drei Wochen bei meinen Großeltern nach Hause in die Großstadt zurückkehrte, war ich heilfroh, dass ich nun wieder etwas unternehmen konnte, ohne dafür mehrere Kilometer fahren zu müssen. An seiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich genauso gefühlt.
Tristan rang mit den Händen. "Irgendwann begann ich, mich hier genauer umzusehen. So stieß ich auf Yasmins Grab und meine Neugier wurde sofort geweckt. Ich wollte unbedingt wissen, wer sie vor über sechzehn Jahren umgebracht hat."

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