Nine

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Ich war immer noch ganz benommen. Noch nie war mir ein Mann so nahe gekommen.
Nicht einmal der Freak in meinem Abi-Jahrgang wollte damals neben mir sitzen geschweige denn mit mir zum Ball gehen.
Ich war nicht nur viel jünger und schlauer als meine Klassenkameraden, ich sah auch noch anders aus.

Ich 'leide' an Albinismus. Neben der extrem blassen Haut und den fast weißen Haaren schimmerten meine Augen in manchen Lichtverhältnissen auch noch rot. Meine Mitschüler sind mir immer aus dem Weg gegangen. Aus Liebe habe ich mir nie viel gemacht, für mich war sie immer ein Nachteil gewesen. Bis jetzt, glaube ich.

'Sink or Swim' von Falling in Reverse riss mich aus meinen Gedanken. Alice hatte wohl wieder schlechte Laune. Verstehe einer die Jugend.
Ich verdrehte die Augen und beschloss, ins Bett zu gehen.
Natürlich konnte ich nicht schlafen, das wäre ja auch zu einfach gewesen.

Ich wälzte mich im Bett hin und her, aber schlafen konnte ich erst kurz nach Mitternacht.

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Mein Wecker klingelte mich um 7 Uhr in der Frühe wach.
Genervt schlug ich die Decke weg und bewegte mich in Richtung Badezimmer, um duschen zu gehen.

Als ich fertig mit der ganzen Prozedur war, kam mir Alice verheult in einem Bademantel entgegen.

"Was ist denn mit dir los?!", fragte ich entsetzt. 

"Ich glaub ich bin krank!", schniefte sie.

Sie zitterte und als ich ihre Stirn anfasste, zog ich meine Hand schnell wieder zurück.

"Du bleibst auf jeden Fall im Bett", befahl ich ihr. "Ich bin um 17 Uhr wahrscheinlich wieder zu Hause."

Sie schlurfte zurück in ihr Zimmer und ich lief in mein Zimmer, um mich anzuziehen.
Meine Haare band ich zu einem Zopf zusammen. Ich überprüfte ihn im Spiegel und sofort fiel mir Jims Meisterwerk eines Knutschflecks auf.
Der Bluterguss war dunkellila und leuchtete mir im Spiegel förmlich entgegen.
Ich band mir schnell einen Schal um, nahm mein Handy, mein Portemonnaie und meine Schlüssel und zog mir Schuhe und Mantel an.

Ich war um kurz vor 8 bei der Arbeit, warf mir meinen Kittel über und begrüßte Molly, die ziemlich gut gelaunt zu sein schien.
"Morgen!", flötete sie und drückte mir eine Kaffeetasse entgegen.

"Gut gelaunt?", fragte ich lächelnd.

"Und wie!", antwortete sie.

Ich fragte nicht länger nach und begann mit meiner Arbeit.

Zwei Unfallopfer und einen zweigeteilten Mann später kam endlich was halbwegs Interessantes rein. Ein Mann, komplett blau angelaufen in seinem Auto gefunden.

"Mord", sagte ich stumpf, nachdem ich seine Eingeweide und sein Blut untersucht hatte.

Molly trat an den Tisch ran. "Kohlenstoffmonoxid ist eher ein Mittel für Selbstmord. Man schläft friedlich durch das geruchlose Gas ein."

"Sie sind gruselig", stellte ich fest. "Das gefällt mir."

Molly sah überrascht aus. "Trotzdem erklärt das nicht, warum Sie einen Mord vermuten."

"In seinem Blut habe ich eine Art Nervengift gefunden, das Opfer ist bei vollem Bewusstsein, aber die Muskeln sind stark gelähmt. Es war also kein einfaches 'Töten', der Mörder wollte Spaß haben, das Opfer leiden sehen.
Nicht nur seine Lunge ist vom Kohlenstoffmonoxid, das durch den Motor kam geschädigt..."

Ich zeigte auf den Magen des Toten. "... sondern auch der Magen. Sehen Sie die Rückstände? Er hat sich gewehrt und dabei das Gas verschluckt.
Der Mörder war kein Ersttäter, auch wenn er typische Anfängerfehler begangen hat. Das Opfer hatte keinen Schlauch mehr im Mund, wahrscheinlich durch die Fingerabdrücke, die der Täter hinterlassen hat.
In einem deutschen Krimifilm hätte der Täter wahrscheinlich noch das Auto in einem See versenkt. Aber so dumm wie die Drehbuchautoren war er Gott sei Dank nicht."

His second friend | Sherlock Holmes x OC #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt