Kapitel 6 ✔

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Ich sah gelangweilt auf die Uhr und stellte fest, dass meine Eltern bereits seit vier Stunden unterwegs waren. Sie hatten eigentlich nur kurz einkaufen und zum Arzt gewollt, doch ich bezweifelte, dass man dafür so lange brauchte. Vielleicht waren sie auch noch einen Kaffee trinken, beruhigte ich mich selbst und überflog noch einmal meine Amazon-Bestellung. Aus Angst vor neugierigen Fragen und seltsamen Blicken hatte ich beschlossen mir grüne Kontaktlinsen zu besorgen. Es würde vielleicht auch meine turbulenten, panischen Gedankengänge unterdrücken, wenn ich nicht die ganze Zeit diese silbrigen Augen sehen musste. Eigentlich war es ein Wunder, dass meine Eltern diese noch nicht bemerkt hatten. Kurz nach dem ich auf die Schaltfläche ‚Bezahlen' gedrückt hatte, klingelte es und ich öffnete meinen Eltern erleichtert die Türe. Noch eine Stunde länger und ich hätte die Polizei gerufen.

„Wir haben dir Schlaftabletten mitgebracht", informierte mich meine Mutter und legte die Packung direkt vor mich auf die Küchentischplatte. Nachdenklich griff ich danach und betrachtete gedankenverloren die Packung. Sollte ich es wagen und eine nehmen? Oder sollte ich darauf hoffen, dass ich diese Nacht keine Alpträume haben würde? Es machte mich ein bisschen wütend, dass meine Mutter trotz meiner Aussage zuvor die Tabletten mitgebracht hatte. Ich hatte mich eigentlich meinen Problemen stellen wollen, mit der möglichen Aussicht darauf, dass ein gewisser Schutzengel noch einmal aufkreuzen würde. Doch mit diesem Mittel fühlte ich mich dazu hingezogen es einfach zu nehmen, in Ruhe zu schlafen und meine Probleme zumindest nachts zu vergessen. „Danke", murmelte ich und stand auf, um mich auf den Weg nach oben zu machen. Woher kam dieses Gefühl, dass ich meinen Eltern auf keinen Fall etwas von meinen Engelsproblemen erzählen durfte?

Mit pumpendem Herz setzte ich mich auf mein Bett. Innerlich hoffte ich darauf, ihn noch einmal sehen zu können, ihm endlich ein paar Fragen zu stellen. Andererseits war mir klar, dass das nicht so schnell geschehen würde. Kurz erinnerte ich mich an das Gefühl, das er durch seine Hand an meiner Stirn letzte Nacht ausgelöst hatte. Es war warm gewesen, warm und beruhigend. Ich hatte gar keine andere Möglichkeit gehabt, als zu schlafen, ganz so wie es auch Schlaftabletten bewirkten. Seufzend rückte ich mich ein wenig auf der Bettkante zurecht. Das dunkle Holz schimmerte leicht im Licht des Mondes. Ich mochte die nächtliche Atmosphäre ohne unnatürliche Lichtquellen, wenn der Raum lediglich durch den Nachthimmel erhellt wurde. Es löste eine angenehme Ruhe aus. Gelassen legte ich mich rücklings auf die weiche Matratze und starrte an die Decke. Auch ohne zusätzliche Einwirkungen fielen mir meine Augen sofort zu.

Am nächsten Morgen musste ich etwas enttäuscht feststellen, dass der Engel nicht aufgetaucht war. Auch wenn ich dies nicht gutheißen konnte, war ich dennoch erleichtert, dass mich diese Nacht keine Alpträume heimgesucht hatten. Vielleicht würde diese ganze Geschichte auch einfach jetzt eine gute Wendung nehmen und verschwinden. Ganz sicher war ich mir bei dem Gedanken jedoch nicht. Und als ich dann im Spiegel in meine silbrigen Augen sah, verschwand die Hoffnung völlig.

„Bescheuerter Mist", grummelte ich leise vor mich hin und zog mir meinen flauschigen Bademantel an, den ich über alles liebte. „Aylin, komm runter! Der letzte Ferientag hat begonnen", rief meine Mutter nach oben und ich verzog leidend das Gesicht. Vielen Dank für die Erinnerung. Ich seufzte schwer, schnappte mir mein Handy, stopfte es in einer der weichen Taschen des Mantels und machte mich auf den Weg in die Küche. Es roch gut nach Bacon und Eiern, sodass ich meine schlechte Laune sofort vergaß.

„Es ist ein Päckchen für dich angekommen", meinte meine Mutter und schob mir die kleine Schachtel über den Tisch zu. Gleichzeitig zog sie aus einer Tüte von einem Schreibwarenladen einige Hefte und Ordner hervor, die sie mir anschließend ebenfalls gab. „Ich hoffe wie haben die richtigen besorgt. Wir mussten bei manchen deiner Anforderungen gestern improvisieren", ergänzte mein Vater und grinste. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln und räumte die Sachen vom Tisch. Immerhin konnte ich dann später meine Zeit voranbringend nutzen und alles einbinden. Das andere Päckchen stellte sich später als meine Kontaktlinsen raus, über die ich angesichts der kommenden Schulwoche sehr erleichtert war.

Nach dem Frühstück schrieb ich Liz das vermutlich zwanzigste Mal, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche und es mir gut ginge. Was eigentlich so ganz und gar nicht stimmte. In meinem Kopf herrschte ein enormes Durcheinander mit so vielen Fragen, dass ich mich zwischen meinen Schulvorbereitungen aufs Bett legen und eine Kopfschmerztabletten nehmen musste. Es regte mich auf, dass er nicht wiederkam, konnte er sich doch wohl denken, wie viel Gedanken ich mir machte und Ängste ich hatte. Vielleicht interessierte es ihn auch einfach gar nicht und was ich erlebte, war ganz normal? Sicher nicht, gestand ich mir daraufhin sofort ein.

„Kann ich dir helfen?", ertönte eine dunkle Stimme hinter meinem Rücken und ich keuchte erschrocken auf, bevor ich hektisch herumfuhr und dem Engel, den ich die ganze Zeit verfluchte, entgegenblickte. Er hatte amüsiert eine Augenbraue nach oben gezogen und seine muskulösen Arme vor der Brust verschränkt. Diesmal hatte er sogar ein schwarzes T-Shirt an, wie mir als erstes auffiel. Gosh, ich sollte meine Gedanken etwas mehr im Zaun halten.

Auf dem Anblick seiner schwarzen Federn hin, entfuhr mir ein schwaches: „Oh Gott!" „Nicht ganz Aylin, aber nahe dran", antwortete mir mein Gegenüber mit einem süffisantem Grinsen und ich kam nicht umher mich darüber aufzuregen. Er wagte es sich nach alledem nicht blicken zu lassen und sich dann blöde grinsend über mich lustig zu machen? Fast entfuhr mir ein verächtliches Schnauben. Ich nahm ein paar Schritte Abstand, um ihn besser betrachten zu können, da er mir während seiner letzten Sätze immer nähergekommen war.

„Hast du Angst?", wollte er daraufhin wissen. Ich ließ mir für die Antwort ein wenig Zeit. Angst konnte man das, was ich fühlte definitiv nicht nennen. „Ich würde es eher als Argwohn beschreiben", antwortete ich dann und blickte ihm in die blauen Augen. Es war nicht das Blau, das der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag präsentierte. Eher erinnerte es mich an die Farbe, wenn sich eben dieser Himmel im Meer spiegelte und durch Felsen einzelne dunklere Facetten aufwies. Er erwiderte meinen Blick, ebenso forschend und neugierig, wie ich es tat.

„Ich werde dir nichts verheimlichen. Du darfst mich fragen, was auch immer du möchtest", meinte er. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Ich hatte, in Anbetracht der vergangenen Zeit seitdem ich ihn getroffen hatte, eigentlich erwartet, er würde entweder gar nicht mehr auftauchen oder mir nur ausweichend auf meine Fragen antworten. Aber hier stand er nun, hatte abwartend eine Augenbraue hochgezogen und den Kopf leicht zur Seite gelehnt. Ich holte tief Luft.

„Haben Engel einen Namen?", fragte ich ihn dann die wohl einfachste Frage, die mir jedoch schon seit der ersten Begegnung brennend auf den Lippen lag. Ich wollte ihn anders bezeichnen können, als nur ‚Der Engel'. Er nickte lächelnd, als hätte er genau gewusst, dass dies meine allererste Frage sein würde. „Alle Schutzengel haben Namen. Ich heiße Black". Mir war sofort klar, weshalb er diesen Namen besaß. Seine pechschwarzen, schimmernden Haare waren von Anfang an sein Merkmal gewesen. Mit anderer Beleuchtung wirkten sie fast schon bläulich. Ich biss mir angestrengt auf die Lippen, während ich mir meine nächste Frage überlegte. Noch bevor ich sie aussprechen konnte, fiel mir auf, dass auch diese vollkommen vorhersehbar gewesen war:

„Was passiert mit mir?" Black rieb sich nachdenklich das Kinn, als müsse er abwägen, ob er mir die ganze Wahrheit erzählen könne. Ich jedoch wartete geduldig. Das dunkle, schwere Gefühl, dass sich mit der Wahrheit mein Leben schlagartig verändern würde, vergrößerte sich von Sekunde zu Sekunde.

In dem Moment, als Black seinen Mund öffnete, um endlich zu einer Antwort anzusetzen, öffnete sich meine Zimmertüre. „Aylin, es gibt Abendessen", meinte mein Vater, warf einen kurzen Blick in den Raum und schloss daraufhin die Türe wieder. Sofort sah ich zurück zu der Stelle, an der Black bis gerade noch gestanden war und atmete hörbar aus. Auch wenn ich froh war, dass er, wie auch immer er das so schnell geschafft hatte, verschwunden war, wurde ich wütend. Frustriert ballte ich meine Hände zu Fäusten und presste meine Lippen zusammen, um nicht schreien zu können. Das war einfach nicht fair, ich verdiente es endlich mehr zu wissen. 


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Black -mein SchutzengelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt