Die Pille nach dem Mauerfall

Sechs Tage ist es her, dachte ich während ich die Pille zwischen meinen Fingern hin und her drehte. "Na los, schluck sie schon herunter, ist doch gar nicht schlimm", rief mir das Mädchen über die dröhnende Musik hinweg zu. Normalerweise nahm ich sie ohne zu zögern, immerhin konnten die Partys auch nur Mithilfe der kleinen Pillen gut werden. Das war auch kein Wunder, denn wer hält es auf einer Party längere Zeit nüchtern aus, wenn alle anderen um einen herum etwas genommen hatten. Und wenn es nur das billig Bier war, über das alle stolperten, da sie zu benebelt waren, um die Flaschen noch richtig wahrzunehmen.
Das Mädchen mir gegenüber schluckte ihre Piller herunter. Ich kannte sie eigentlich gar nicht. Eigentlich kannte ich keinen hier. Ich war nur hier, weil ich vor zwei Tagen einen grünen Flyer vor meiner Haustür gefunden hatte, auf dem knappe Infos zu einer Party am Kullwitzer See waren. Als ich den Flyer gesehen hatte, dachte ich es wäre mal wieder eine gute Abwechslung zum Alltag. Von den ganzen Leuten die kein anderen Thema als den Mauerfall mehr kannten. Sie sagten, es wäre gut, dass die Mauer gefallen ist, aber ist das wirklich so? Wer weiß das schon? Es wird sich zeigen, wie gut das war, doch das wird noch dauern. Unsere Wartezeit werden wir wie gewohnt damit verbringen arbeiten zu gehen, uns zu beschweren wie scheiße unser Leben ist, wir werden weiterhin über die schönen Momente hinweg sehen und uns einreden wie schlecht wir es doch haben, wir werden auch weiterhin anderen Leuten die Schuld für unser beschissenes Leben geben, anstatt es in die Hände zu nehmen und etwas daraus zu machen. Mit dem Gedanken sah ich noch einmal durch die Runde und betrachtete die aufgerissenen Augen, die zuckenden Kiefer, die torkelnden Menschen und dann schluckte ich sie herunter. Ich würde es wie die anderen machen.
Ich würde es machen, wie ich es immer tat.