Kapitel 10

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"Du möchtest mich dabei unterstützen, ihren Mörder zu finden?", stellte er ungläubig klar.
"Indirekt, ja", sagte ich, auch wenn mir bei dem Gedanken unwohl war. "Doch nur, wenn du aufhörst, mehr über meinen Vater erfahren zu wollen."
"Klingt gut. Abgemacht." Er hielt mir die Hand hin und ich schüttelte sie. Dabei sahen wir einander fest in die Augen und ich fragte mich, auf was ich mich da gerade einließ. Vielleicht war es einen Versuch wert, dass ich mich mit allem noch einmal auseinandersetzte, aber wahrscheinlich würde Tristans Suche nach dem Mörder im Nirgendwo enden. Immerhin hatte die Polizei bis heute nichts Brauchbares gefunden, auch wenn wir von Zeit zu Zeit damit abgespeist wurden, dass sie sich bemühen würden, die Tat aufzuklären. Was sechzehn Jahre lang trotz aller Anstrengungen allerdings zu nichts geführt hatte.
Trotzdem musste ich zugeben, dass ein kleiner Hoffnungsschimmer in mir existierte, der bei unserem Händedruck aufzuglühen schien. Doch was wäre, wenn Tristan nur noch einen Schritt vom Mörder entfernt war und ihm nur noch ein letztes Puzzleteil fehlte, um das Bild komplett zu machen? Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wer dahintersteckte. Denn unter Umständen war es jemand, den ich kannte und dem ich so etwas nie zutrauen würde.
Der Gedanke löste ein Schaudern in mir aus und ich rieb mir über die Arme, sobald Tristan meine Hand losgelassen hatte.
"Du kannst dir alles anschauen, was in der Mappe ist. Dort bewahre ich die Zeitungsartikel auf, die Christel mir gegeben hat, sowie Notizen, die ich mir dazu gemacht habe", sagte er und ich nickte. "Danke, werde ich tun", erwiderte ich, obwohl ich mir dem noch nicht unbedingt sicher war. Wollte ich wirklich alles über den Tod meiner großen Schwester erfahren und jene Dinge ans Licht bringen, die man mir über viele Jahre hinweg verschwiegen hatte?
Unschlüssig nahm ich die Mappe in die Hand. Sie fühlte sich dick an und ich malte mir bereits im Kopf aus, mit welchen Informationen sie wohl gefüllt war.
"Es wäre gut, wenn du mir sie möglichst bald zurückbringst. Und du solltest mir alles sagen, was du über Yasmin weißt", meinte Tristan und ich nickte.
Ich war mir sicher, dass es nur wenig gab, wovon er noch nichts erfahren hatte. Und zu Yasmin konnte ich allgemein nicht sehr viel beitragen, da ich sie lediglich aus Erzählungen und von Bildern her kannte. Gleich nach dem Abendessen würde ich mir die Zeitungsartikel anschauen und dann bestimmt auch eine bessere Vorstellung von Tristans jetzigem Wissen bekommen. "Mach dir keine großen Hoffnungen, ich kannte meine Schwester schließlich nie persönlich und ich denke nicht, dass ich dir viel Neues sagen kann", meinte ich.
"Das ist nicht schlimm. Immerhin könnte ich dann Christels erfundene Fakten von den wahren trennen", erwiderte er.
"Wie du meinst." Ich stand auf. "Es wird langsam Zeit, dass ich wieder zu meinen Großeltern zurückkehre. Wir sehen uns dann in den nächsten Tagen, hängt davon ab, wann ich alles gelesen habe und komme, um dir die Mappe zu geben. Oder wir begegnen uns vorher schon zufällig."
Er erhob sich ebenfalls und öffnete mir die Zimmertür. "Schön, dich kennengelernt zu haben."
"Gleichfalls", antwortete ich und stieg vor ihm die knarzenden Treppenstufen hinunter. Die Mappe wog schwer in meiner Hand.
Als wir den Raum der Gaststätte durchquerten, war Uwe gerade dabei, die Tische abzuwischen. Er hob eine Hand und ich lächelte ihm kurz zu. Es war bereits kurz vor sechs Uhr und bald würden wahrscheinlich die ersten Gäste hier auftauchen. "Bis bald", verabschiedete ich mich, nachdem ich mich auf das alte Fahrrad geschwungen hatte. Tristan nickte mir noch einmal zu und ich fuhr los. Einerseits freute ich mich, dass ich so viele Antworten auf meine Fragen erhalten hatte, andererseits machte sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend breit, das mir sagte, dass es keine gute Idee gewesen war, Tristan bei seiner Suche nach dem Mörder zu unterstützen.
Doch ich verdrängte es und versuchte, mich stattdessen auf den Fahrtwind zu konzentrieren, der meine Haut kühlte und meine braunen Locken wehen ließ. Die Sonne verschwand für einen Moment hinter einer einzelnen Wolke am Himmel und ich genoss es, nicht mehr ihren heißen Strahlen ausgesetzt sein zu müssen, auch wenn diese abends nicht mehr so intensiv waren wie nachmittags.
Ein paar Dorfbewohner standen vor ihren Häusern, gossen ihre Blumen oder unterhielten sich. Das Leben hier schien während des Sommers nur in den frühen Morgen- oder den Abendstunden aufzublühen.
Plötzlich wurde ich abrupt aus meinen Gedanken gerissen, als ich mit Vorderrad über etwas fuhr oder daran entlangstreifte und gerade noch in letzter Sekunde verhindern konnte, dass ich vom Fahrrad fiel. Sofort hielt ich an und stieg ab, um zu sehen, was mich eben fast zu Fall gebracht hätte.
Dann fluchte ich laut auf. Im Reifen steckte eine Glasscherbe und ich hörte das leise Zischen von Luft, die daraus entwich. Um einen Platten würde ich höchstwahrscheinlich nicht herumkommen. Und das ausgerechnet zu Beginn der Ferien.
"Mist", murmelte ich leise und zog den Splitter heraus, woraufhin das Zischen lauter und der Reifen in Rekordgeschwindigkeit immer dünner wurde. Ich stand nur daneben und schaute hilflos zu.
Dann hielt ich nach weiteren Glasscherben Ausschau, um zu verhindern, dass mir dasselbe am Hinterrad widerfuhr. Aber ich konnte nichts entdecken. Anscheinend war ich ausgerechnet in die einzige weit und breit gefahren. Na toll.
Schlecht gelaunt schob ich mein Fahrrad weiter. Warum musste die verdammte Scherbe ausgerechnet in meinem Reifen stecken bleiben? Entweder würde ich ihn nun flicken oder einen neuen kaufen müssen. Auf beides hatte ich keine Lust und so stapfte ich missmutig zum Haus meiner Großeltern, die davon bestimmt ebenfalls nicht sehr begeistert sein würden. Hoffentlich verzieh mir Oma den Platten an ihrem alten Damenfahrrad.
Das Gartentor stand offen und ich sah meinen Opa in der Hollywoodschaukel sitzen. Apollo hatte sich auf dem Fußabtreter vor der Haustür niedergelassen und sonnte sich. Seine Schnurrhaare zuckten leicht, als ich das Fahrrad zum Haus schob.
"Da bist du ja wieder", begrüßte mein Großvater mich. "Sonderlich glücklich scheinst du aber nicht zu sein."
"Ich bin ausversehen in eine Glasscherbe gefahren und nun hat das Rad einen Platten", gestand ich kleinlaut.
"Wie hast du das denn geschafft?", fragte er, stand auf und kam zu mir hinüber, um den Reifen einer gründlichen Betrachtung zu unterziehen.
"Wenn ich das nur wüsste", erwiderte ich. "Wahrscheinlich war es die einzige im ganzen Umkreis von mehreren Kilometern. Tut mir wirklich Leid, ich werde das morgen früh flicken."
"Ob sich das noch lohnt? Die Reifen sind sowieso schon ziemlich alt und abgefahren und vielleicht wäre nun die richtige Zeit, um sie endlich zu wechseln", antwortete Opa und legte mir eine Hand auf die Schulter. "Mach dir nichts daraus, das hätte jedem passieren können."
Erleichtert atmete ich auf. Dann war das kleine Missgeschick wohl doch nicht so schlimm, wie ich es mir ausgemalt hatte.
"Du kannst es gleich morgen zur Werkstatt bringen. Ich glaube, dass sie dort auch Fahrradreifen anbieten", überlegte er und ich nickte. Dann würde es hoffentlich nicht mehr allzu lange dauern, bis ich wieder damit fahren konnte.
Zwischen den Dörfern hier von A nach B zu kommen, war ohne Fahrrad außerordentlich schwierig, da alle sehr weit auseinander lagen und es viel Zeit brauchte, zu Fuß zum nächsten Ort zu gelangen. Selbst wenn man den direkten Weg über die Weiden und Felder nahm, dauerte es mindestens eine halbe Stunde.
"Dann weiß ich auf jeden Fall, was ich morgen zu tun haben werde", meinte ich und lächelte schief. Hoffentlich konnte man die Reifen schnell wechseln, ansonsten würde ich in den kommenden Tagen hier im Dorf festsitzen.

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt