Alte Wunden

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Seit Tagen habe ich mich in mein Zimmer eingeschlossen, und nur noch geweint. Das Essen stellt mir meine Mum vor die Tür, alles andere verdränge ich, mein Handy ist aus, und sobald es an meiner Tür klopft schalte ich auf Durchzug. Ich weiß, dass das nicht sehr sinnvoll ist, aber ich habe diese Zeit für mich gebraucht. Als ich daran denke, warum ich hier so niedergeschlagen sitze, kommt mir Ben, wie so oft in den Tagen, in den Kopf. Wahrscheinlich macht er sich furchtbare Sorgen, er war auch oft hier, doch mein Vater hat ihn jedes Mal an der Türe schon rausgeschmissen und ihn angeschrien er hätte unsre Familie zerstört. Ich schäme mich so für meinen Vater, Ben kann doch nichts dafür....

Ich hört wie meine Mutter wieder mal das Essen vor die Tür stellt, fast gleichzeitig schiebt sich ein Zettel durch den Türschlitz. Vorsichtig stehe ich auf und laufe Richtung Tür. Ich nehme den Zettel in die Hand, doch bis ich entziffern kann, was da steht, brauche ich kurz, da durch die vielen Tränen alles verschwommen ist. Mir stockt der Atem, das kann nicht ihr Ernst sein!! Meine Eltern wollen umziehen!! Meine eh schon kaputte Welt fällt auseinander. Ich sacke zusammen und liege wie ein Häufchen Elend auf dem Boden. Ich versinke in einem Schrei- und Weinkrampf. Alles was ich erreichen kann, nehme ich und schmettere es auf den Boden. Die ganzen Urlaubsfotos vom Chiemsee mit meinen Eltern, die gerahmt auf der Kommode standen liegen jetzt in einem Scherbenhaufen unter mir, auch meine kleine Lampe ist kaputt. Innerhalb von ein paar Tagen ist meine komplette Welt zerstört, genau wie die Fotos und die Lampe. Und dann tue ich etwas, was ich mir niemals zugetraut hätte...

Ich hebe eine der Scherben auf und setze an meinem Arm an, ich drücke leicht und schon fließt Blut. Ich sehe es, doch ich spüre keinen Schmerz, alles fühlt sich taub an...Ich will gerade weiter machen, als mir jemand die Scherbe aus der Hand reißt und mich in eine feste Umarmung zieht. Ich schaue auf und sehe in Bens Augen. „Aber wie...?" weiter komme ich nicht, da ich erneut von Schluchzern geschüttelt werden. „Mach das nie wieder, hörst du? Das sind deine Eltern nicht wert." Er schaut auf meinen Arm, als er die alten Narben sieht, schaut er mich entsetzt an. „Wann hast du das getan?" Ich habe mich langsam beruhigt, aber ich weiß nicht, wie ich das alles Ben erklären soll... natürlich kennt er meine Vergangenheit nicht, zumindest was diesen Teil anbelangt, darüber rede ich ja auch nicht gerne. „Wir ziehen um", ist das einzige was ich von mir geben kann.

Ben hat mich erstmal mit zu sich genommen, ich verstehe nicht, warum er das tut. Eigentlich dachte ich er ist bestimmt sauer, weil ich mich nicht bei ihm gemeldet habe.

Ich sitze auf seinem Bett, Ben ist noch kurz was holen. Kurz darauf kommt er mit einem kleinen Verband und Desinfektionszeug wieder. Er setzt sich neben mich, tupft vorsichtig die Wunde ab und verbindet sie dann. Er sieht mich dabei die ganze Zeit traurig an. Dann setzt er sich zu mir und nimmt mich einfach nur in den Arm. Er sagt nichts, denn er weiß, er kann mich nicht zum Reden bringen....
„Meine Eltern wollen nach Hamburg ziehen. Sie finden ein Ortswechsel würde mir gut tun und mich von dem ganzen hier ablenken...Ich verstehe sie einfach nicht, wie können sie mir so was an tun...? Und dann, als die Scherben um mich lagen, sah ich einfach keinen anderen Ausweg mehr..." Wieder rinnen Tränen über mein Gesicht und ich schluchze auf. „Ddu... hast das schonmal gemacht, oder?" Beschämt schaue ich auf meine Hände und sage einfach gar nichts, er würde es ja doch nicht verstehen. Keiner versteht das, da es keiner kennt... Immer mehr Tränen tropfen von meinem Kinn, am liebsten würde ich mich gleich wieder irgendwo alleine einschließen. „Bitte, schau mich an, ich ertrage das nicht, und egal was ist, ich bin für dich da." Sachte greift er unter mein Kinn und dreht mein Gesicht zu sich. Ein federleichter Kuss streift meine Lippen. „Bitte... schau mich an... und rede mit mir." Wieder will ich beschämt meinen Kopf wegdrehen, doch Ben hält mein Gesicht weiterhin fest, ein kurzer Blick in seine flehenden Augen genügt und meine Mauer des Schweigens bricht. „Das ist schon länger her... ich war damals gerade in der 5. Klasse... Meine Eltern wissen auch nichts davon. Und es war alles so viel... die neuen Mitschüler, die mich nicht akzeptiert haben, die neue Schule, ich hab das alles einfach nicht mehr ausgehalten... Und dann lag Papas Rasierer auseinander gebaut herum, es hat sich damals so richtig angefühlt..." Meine Stimme bricht, ich schluchze unermüdlich. Ben schlingt seine Arme um mich und küsst mich auf den Scheitel. „Shhh... es wird alles wieder gut, ich bin für dich da und werde immer für dich da sein."

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So da ist ein neuer Teil...
Hoffe es gefällt euch.

Wer bin ich? #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt