Abdecker

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Jade betätigt aus dem Autofenster heraus den Summer. Eine ganze Weile bleibt es still, dann meldet sich eine ältere, heißere Stimme.
,,Ja? Hallo?"
,,Hier spricht Jade Alventh-"
,,Haben sie einen Termin", unterbricht er sie.
Jade wirft mir einen unsicheren Blick zu.
,,Eigentlich nicht. Wir wollen Ihnen ein Pferd abkaufen." Sie spricht besonders schnell, damit die unfreundliche Stimme sie nicht wieder unterbrechen kann.
Stille senkt sich über uns und die Sprechanlage. Generell bin ich ziemlich verwundert, dass ein Schlachter einen von diesen Summern besitzt, der automatisch das schwere Eisentor aufgehen lässt. Also nur, wenn der alte Mann das auch will.
,,Wie sagten sie ist ihr Name?", fragt die Stimme.
,,Jade Alventhur." Noch während sie antwortet erklingt das Summen und die silbernen, riesigen Eisentore schwingen zu beiden Seiten auf.
Wir fahren einen sanft ansteigenden Hügel hoch und können außer dem Weg dem wir folgen nur grün sehen.
Auf einen Schlag verflüchtigen sich alles Gras, alle Bäume, Büsche und Sträucher und eine gewaltige Lichtung tut sich vor uns auf.
Jade stellt das Auto am Rand ab und steigt aus. Ich tue es ihr gleich.
Bis jetzt kann ich nur zwei riesige, geschlossene Hangers, eine große Weide ohne Pferde entdecken und ein kleines Holzhaus zu meiner Rechten. Im gleichen Augenblick tritt ein untergesetzter Mann mit breiten Füßen und Händen, ernster Mine und Glatze aus dem Haus heraus. Er mustert erst mich dann Jade. Dann grinst er plötzlich und drückt enthusiastisch meine Hand.
,,Dann musst du Charisma Rose sein! Habe ich recht oder habe ich recht?"
,,Das Erste", meine ich schüchtern und stecke eine rote Haarsträhne zurück in meinen Pferdeschwanz. ,,Woher wissen Sie das?"
,,Mein Junge spricht ununterbrochen von dir und deinen Werken. Er ist davon überzeugt, dass du mal eine ganz große Künstlerin wirst." Sein Grinsen droht seine Tränensäcke zu erreichen.
Ich spüre die Röte auf meinen Wangen und schaue zu Boden.
,,Da musst du doch nicht rot werden", lacht der Mann und boxt mir spielerisch gegen die Schulter.
,,Und Sie heißen?"
,,Ja, weißt du das denn nicht mehr?" Geschockt blickt er mich an.
,,Nein, tut mir leid. Vorübergehender Gedächtnisverlust." Am Besten, ich schreibe mir die Worte mit Edding auf die Stirn.
,,Ach, du Armes." Der geschockte und zugleich verletzte Ausdruck verschwindet und Sorge und Verständnis zieren sein faltenreiches Gesicht. ,,Ich heiße Samson Russell... Freunde nennen mich Sam."
,,Hi Sam." Ich schenke ihm ein zaghaftes Lächeln.
,,Aber an meinen Sohn kannst du dich doch bestimmt erinnern?"
Ich schüttel den Kopf.
,,Naja." Er besieht sich kurz seiner Armbanduhr. ,,Er müsste in ein bis zwei Stunden hier sein. Na dann! Deine Freundin hat gesagt ihr wollt ein Pferd kaufen, oder habe ich mich da verhört?" Sam runzelt skeptisch die Stirn.
Bevor Jade auch nur den Mund aufmachen kann, spreche ich.
,,Ja. Mein Gedächtnisverlust kommt daher, dass ich ziemlich unvorsichtig mit einem Strick war. Ein Pferd hat sich erschreckt, sich in meinem Seil verfangen und ist auf mich gestürzt. Jetzt soll es geschlachtet werden, obwohl es ganz allein meine Schuld war." Ich schlucke den Klos in meinen Hals herunter und räuspere mich.
,,Ja, ja. Ich glaube an die Geschichte kann ich mich erinnern. Aber ich wusste nicht, dass du das verwöhnte Girl warst. Jetzt verstehe ich so einiges..."
Sam führt uns an den beiden Hangars vorbei zu der großen Weide. Erst als ich am Zaun angekommen bin, sehe ich, dass sie doch nicht unbewohnt ist. Unter einer Blechplatte, die in den Bäumen befestigt ist und wohl als Regenschutz dient, tummeln sich vier Pferde und grasen gemeinsam. Außerhalb und etwas ausgeschlossen steht, in der gegenüber liegenden Ecke, ein rostroter Wallach.
,,Warum steht er hier?" Ich deute auf Champion.
,,Das ist Nathans 'Sammlung'. So nenne ich die Pferde."
,,Nathan?" Irgendwo in meinem Hinterkopf klingelt es leise.
,,Mein Sohn. Er geht mir hier des öfteren zur Hand. Ab und zu verspürt er den Drang Pferde, die hier halbwegs gesund abgeliefert werden, zu retten. Der große Schwarze mit dem durchhängenden Rücken war sein Erster. Die beiden haben eine unglaublich starke Bindung zueinander, aber er ist inzwischen so alt, dass er nicht mehr geritten werden kann. Ich habe Nathan angeboten ihn zu erschießen, aber er will, dass er irgendwann friedlich einschläft. Im Laufe der Jahre kamen dann noch die anderen drei dazu. Die kleine Braune ist blind, aber Nathan reitet sie trotzdem. Er will den Leuten zeigen, dass Handicap-Pferde das gleiche Recht zu leben haben wie gehandicapte Menschen. Die Weiße mit den schwarzen Punkten ist taub. Ach und dann ist da ja noch dein Champion. Ich persönlich hätte dem Tier die Qualen erspart und es erschossen. Es ließ sich kaum führen, hat ausgetreten und gebissen. Dazu kommen noch die Wunden, das angeschwollene Bein und die Mauke. Tja. Für mich war er ein klarer Fall, nur Nathan wollte das nicht auf sich sitzen lassen... und jetzt weiß ich auch warum."
Ich höre Sam gerne zu. Seine Stimme ist etwas heißer, nicht zu laut und nicht zu leise. Er spricht jeden Satz langsam und wie eine unbeantwortbare Frage aus. Seine Brauen zucken, wenn er von seinem Sohn erzählt. Außerdem kann er einfach nicht aufhören kleine Splitter aus dem Holzzaun zu ziehen.
,,Und warum?", fragt Jade und lehnt ihre Ellenbogen auf die obere Latte des Zauns.
,,Na wegen ihr." Sam zeigt mit dem Daumen auf mich und ich spüre förmlich wie meine Pupillen sich weiten. ,,Ich bin mir sicher, er wusste irgendwoher, dass du diejenige warst, die unter das Pferd geraten ist. Nur deinetwegen wollte er nicht, dass ich Champion erschieße."
Ich stiere Sam an. Meine Hände habe ich zu Fäusten geballt und ich schlottere vor Angst.
Der Abdecker scheint meine Gedanken erraten zu haben... oder zumindest meine Haltung richtig zu deuten.
Er hebt die Hände hoch als wolle er sich ergeben. ,,Ruhig Blut. Nathan hat eine Freundin."
Da fällt es mir wieder ein.
Nathan Russell.
Mein Kindergartenfreund.
Nathan Russel, der schon immer besser Fußball spielen konnte als ich.
Nathan Russell, der den gleichen Kunstkurs besucht wie ich.
Nathan Russell, der so gut wie alles für mich tun würde und doch nur ein Freund ist.
Nathan Russell, den ich unbewusst durch Steve Martin ersetzt habe.
Der Nathan Russel, der trotz allem Champion das Leben gerettet hat.
,,Oh", hauche ich und bin froh, dass mein alter Freund endlich eine Freundin gefunden hat. Das er, im Gegensatz zu Steve, die Zeit dazu hatte.

Our Second ChanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt