Eigentlich hat es mir nie etwas ausgemacht, alleine zu sein. Ich fand diese Zeiten immer am besten, weil ich dann machen konnte, was ich wollte. Viel zu laut singen, ohne dass es jemanden stört. Durch die Wohnung tanzen wie eine Verrückte. Das essen, was mir schmeckt. Ja, ich war wirklich froh, als ich endlich von zu Hause in eine Ein-Zimmer-Wohnung ziehen konnte. Und weil ich mich so gut geschlagen habe in meinem ersten Semester an der Universität, spendierten mir meine Eltern einen Urlaub. Eigentlich einen für zwei Personen, damit ich nicht alleine fliegen musste. Aber da sich meine Freundschaften nach dem Abitur verlaufen haben und ich bisher nur flüchtige Kontakte an der Uni knüpfen konnte, wusste ich niemanden, der als Begleitung infrage gekommen wäre. Außerdem konnten meine Mutter und mein Vater das Geld selbst dringend brauchen. Sie verstanden mich zwar nicht, akzeptierten aber meine Entscheidung.
So kam es, dass ich den knapp dreistündigen Flug zu der griechische Insel Rhodos auf mich nahm, um zum ersten Mal das Meer zu sehen. Dabei stellte sich heraus, dass ich auch noch unter Flugangst leide – auf den Rückflug freue ich mich deshalb umso mehr. Das ist das erste Mal, dass mir bewusst wird, dass ich niemanden habe. Niemanden, der wirklich wichtig ist in meinem Leben – von meinen Eltern einmal abgesehen. Niemanden, der mir gut zuredet, wenn ich das Gefühl habe, das Flugzeug könnte jeden Moment abstürzen. Niemanden, der mir ein Taschentuch reicht, wenn mir aufgrund meiner Panik Tränen über die Wangen kullern. Niemanden, der mich festhält, wenn ich nach dem Landen hin und her taumele wie eine Betrunkene. Keine beste Freundin. Kein fester Freund.
Leider setzt sich das Gefühl bis jetzt fort. Alleine am Strand zu sitzen, zwischen all den fremden Leuten, ist ganz schön einsam. Alleine im Mittelmeer planschen, ist langweilig. Alleine im Hotelzimmer ... davon will ich lieber gar nicht anfangen.
Darum mache ich heute auch das, was mir am ehesten das Gefühl gibt, nicht völlig alleine zu sein: die Gegend erkunden – und sie fotografieren. Ich liebe es einfach, die Realität auf Bilder zu bannen. Und da ich nicht besonders gut im Malen bin, habe ich angefangen zu fotografieren. Mit einer einfachen Digitalkamera, denn die Bilder sind nur für mich allein. Ich will mich daran erinnern, wie schön die Welt sein kann. Oft ist das Leben ungerecht und die Menschen sind egoistisch. Aber die Erde ist ein Planet voller Magie. Egal, ob auf emotionaler Ebene wie der der Liebe und Freundschaft oder auf natürliche Art und Weise.
Am liebsten fotografiere ich Landschaften. Nur muss ich erst mal eine finden. Ich habe irgendwie das Gefühl, von einem Hotel zum nächsten zu wandern. Ist diese Insel wirklich nur eine Touristenattraktion? Der Weg führt stets zwischen Gebäuden entlang. Wo sind die einsamen Buchten und Strände? Anscheinend habe ich mir nicht das richtige Hotel ausgesucht. Statt auf den Preis zu achten, hätte ich mir lieber die Infrastruktur ansehen sollen.
Ein Blick auf Google Maps kann sicherlich nicht schaden. Nur, wo ist dieses blöde Smartphone, wenn man es mal braucht? Ich hätte eine kleinere Tasche mitnehmen sollen ...
Gerade als ich es gefunden habe, rempelt mich jemand an und ich lasse es fallen. Es kommt so hart auf dem Steinboden auf, dass ein Teil des Gehäuses abgeht und einen halben Meter weit weg fliegt. Na toll. Hoffentlich ist es jetzt nicht kaputt.
Ich bücke mich und hebe den Teil mit dem Akku auf. Noch bevor ich mich aufrichten kann, wird mir der andere Teil entgegengestreckt. Überrascht lasse ich meinen Blick von einer feingliedrigen Hand über einen muskulösen Oberarm bis zu einem maskulinen Gesicht wandern. Der Unbekannte hat leichte Bartstoppeln an den Wangen und am Kinn. Sie haben die gleiche Farbe wie seine kurzen, dunkelbraunen Haare. Doch was mich am meisten fasziniert, sind die Augen. Sie sind blau, aber nicht so wie das Mittelmeer, das ich seit zwei Tagen unentwegt anstarre. Nein, sie sind eher türkis, haben einige grüne Sprenkel um die Pupille. Diese Augen sind so wunderschön, dass ich das Gefühl habe, ich würde in ihnen ertrinken, auch wenn sie kaum Ähnlichkeit mit dem Wasser haben.
DU LIEST GERADE
Der Unbekannte
Short StoryEine Geschichte über die Begegnung zweier Menschen auf der griechischen Insel Rhodos - die nicht so romantisch abläuft, wie man es von einer Urlaubsliebesgeschichte erwarten könnte.