1.

192 15 4
                                    

Liebe Anna,
ich weiß, dass du mich nicht richtig kennst und ich weiß, dass ich überhaupt nicht dein Typ bin, aber trotzdem weiß ich, dass du mir eine Chance geben würdest, wenn ich mich nur genug anstrenge.
Liebe Anna,
es klingt vielleicht stalkermäßig, aber ich sehe dich oft und gerne an. Ja, dein Aussehen ist schon fast blendend. Und trotzdem schaue ich jedes Mal wieder hin. Dein Gang, deine Gestik, dein Augenaufschlag. Woher ich den kennen sollte? Liebe Anna, auch wenn du es noch nicht weißt, du hattest mich schon mal angesehen. Und für einen Augenblick blieb die Welt für mich stehen. Ich dachte du würdest mich vielleicht mehr ansehen, aber ich hatte mich getäuscht. Das war das einzig und letzte Mal. Leider.
Liebe Anna,
auch wenn ich weiß, dass du mich nie betrachtest und denkst ich sehe gut aus oder der gefällt mir. Umso mehr tue ich es.
Liebe Anna,
ich bin verrückt, dass ich überhaupt so einen Brief verfasse. Vielleicht lachst du gerade einfach nur über meine Worte. Oder vielleicht hast du den Brief auch gar nicht bekommen, da ich ihn in den falschen Spind gesteckt habe oder er dir runtergefallen ist. Aber darüber möchte ich mir keine Gedanken machen, da es mich sowieso nur runter machen würde. Ich würde es nicht noch einmal wagen, dir einen Brief zu schreiben. Es hat lange gedauert, liebe Anna, bis ich mich dazu überwinden konnte. Es hat lange gedauert, bis ich überhaupt einen Text zu stande gebracht habe, der lesbar und gut ist. Damit habe ich trotzdem nicht ganz mein Ziel erreicht. Dieser Brief ist, objektiv gesehen, lächerlich. Er soll einfach meine Gefühle für dich aussagen. Ich kenne dich nicht? Und ob ich das tue. Geredet haben wir auch schon. Nicht viel, aber schon etwas. Nur oberflächlich, versteht sich wahrscheinlich.
Liebe Anna,
ich gehe stark davon aus, dass du den Brief wirklich liest. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl, wenn ich daran denke, dass eine deiner Freundinnen mitlesen. Ich fände es besser, wenn du ihn allein gelesen hättest. Dann würdest du dich nämlich alleine lustig machen und dann erst zu einer Freundin gehen. Aber das ist irrelevant. Ich hoffe ja, dass du gar nicht lachst.
Liebe Anna,
ich weiß, dass du keine Ahnung hast wär ich sein könnte. Das musst du auch nicht. Ich wollte dir nur sagen, dass du für mich ein bildhübsches Mädchen bist. Dein Charakter ist wahrscheinlich noch besser, aber den kann ich leider nicht kennen lernen. Wäre doch zu schön.
Liebe Anna,
ich danke dir, wenn du an diese Stelle gekommen bist. Dann weiß ich nämlich, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen völlig verrückten Brief zu lesen. Naja, eigentlich weiß ich es ja nicht, aber du weißt, wie viel mir das Wert ist.
Liebe Anna,
ich glaube, dass es genug Worte waren. Ich hoffe, dass du nun weißt wie ich dich finde. Auch wenn wir uns nicht wirklich kennen.

"Was ist das?", fragte Claire.
Ich zog den Brief schnell beiseite und brachte ein unglaubhaftes "Nichts" zustande.
"Ach komm schon", sie wollte nach dem Brief greifen, aber ich zog ihn weg. Ich wollte ihn ihr nicht zeigen.
"Na dann eben nicht. Du, ich muss nochmal ins Sekretariat. Sehen wir uns dann noch?"
"Bestimmt", lächelte ich. Das gute an ihr war, dass sie Sachen schnell wegsteckte. Sie nahm es mir vielleicht übel, dass ich es ihr nicht gezeigt hatte, aber sie hakte nicht mehr nach. Ich könnte sowas nicht. Dafür bin ich viel zu neugierig. Genauso neugierig, um wissen zu wollen wer der unbekannte Briefschreiber ist. Seine Worte hatten mich wirklich berührt. Ich musste ab und zu grinsen, aber ausgelacht hatte ich ihn oder eben seinen Brief auf keinen Fall. Ich weiß nicht ob dieser Brief ernst gemeint war oder nicht. Diese Worte kamen mir so gefühlvoll und echt vor. Ich konnte zwar nicht verstehen, wie mich jemand so toll finden konnte, aber andersrum wusste ich nicht, wer mich verarschen sollte. Ich verstand mich eigentlich mit allen gut und war eine sehr neutrale Person. Ich nahm den Brief erneut zur Hand, als ich draußen auf einer Bank auf dem Schulhof saß. Immer wieder lies ich jedes einzelne Wort. Dadurch konnte ich natürlich nicht herausfinden, von wem der Brief kam, auch wenn ich das insgeheim hoffte.
"Hey Anna", rief mir jemand zu und ich verstaute den Brief schnell in meiner Tasche.
"Hey, Ben", erwiderte ich.
"Du siehst so verträumt aus", stellte er fest. Oh Mist. Das sah man mir auch noch an? Wie peinlich.
"Wie geht es dir?", lenkte ich ab.
"Ganz gut. Außer das meine Mutter mich zu meinem Onkel schleppen will", er setzte sich neben mich.
"Was ist daran so schlimm?", fragte ich nach. Ein Onkel ist ja wohl nicht schlimm.
"Oh, du kennst meinen Onkel nicht"
"Nein, da hast du Recht"
"Voller Manieren und Lautstärke. Egal was ich mache, ich mache es falsch"
"Ist doch immer so", versuchte ich ihn aufzumuntern.
"Hm. Und wie geht es dir?"
"Ach, ganz gut", meinte ich und seufzte. Der Brief machte mir irgendwie zu schaffen.
"Hört sich überzeugend an", lächelte er und schaute über den Schulhof.
"Du, Ben."
"Ja?", er wandte sich wieder mir zu.
"Wenn du einen Brief von einem Unbekannten bekommen würdest, was würdest du tun?"
"Schreien"
"Warum das?"
"Wenn mir jemand droht, mich umzubringen. Ich habe viele Feinde", lachte er. Oh, ich hatte mich wohl falsch ausgedrückt.
"Ich meine, einen Liebesbrief"
"In Müll schmeißen. Echte Frauen kommen persönlich" Diesmal musste ich lachen. Er war wirklich verrückt.
"Und was ist, wenn er sich echt und gefühlvoll anhört?"
"Komm mir ja nicht mit gefühlvoll" Ok, er war keine große Hilfe. Hätte ich ahnen können. Jungen schreiben in unserer Zeit keine Liebesbriefe mehr. Aber warum hat es dann der unbekannte Briefschreiber gemacht? Er hätte mich auch ansprechen können. Obwohl es ja eigentlich eine schöne Art ist, Briefe zu schreiben. Finde ich zumindest. Aber mein Geschmack ist auch nicht immer der angesagteste. Eigentlich nie. Deswegen wundert es mich ja auch, dass mir jemand einen solchen Briefe schreibt. Sollte ich lieber davon ausgehen, dass es ein Spaß war? Dann würde ich mir auch weniger Gedanken machen.
"Anna?"
"He?"
"Ich fragte, ob du mitkommst"
"Oh, ja, klar", ich war wohl zu tief in meinen Gedanken vertieft. Was ein Wortspiel. Ich stand auf und folgte ihm. Wir hatten nämlich zusammen Unterricht.

Liebe AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt