- Kapitel 1 -

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Irgendwas stimmt nicht mit mir.
Ich kann mich nicht erinnern, wer ich bin oder wie ich hierherkam. Ich weiß nur: Wenn ich aufwache, kann ich alles sein, egal welches Alter, egal wer. Wieder einmal. So ist es immer.
Wenn ich mich sehr zu Hause fühle, wache ich eines Morgens auf, und alles um mich herum hat sich über Nacht verändert.

Alles, was ich einmal gewusst habe, weiß ich jetzt nicht mehr.
Und alles, was ich hatte - verschwunden in einem einzigen Augenblick. Nichts kann ich halten, nichts bleibt. Das macht mich anpassungsfähig.
Ich muss immer wieder neue Bindungen knüpfen. Ich muss vorsichtig sein, sonst verrate ich mich. Denn ich muss überleben.
Ich weiß nicht warum, aber ich muss immer in Bewegung bleiben.
Ich bin selbst mein schlimmster Feind; so viel ist mir schon klar geworden.
Damit weißt du fast so viel über mich wie ich selbst.

Ich sehe aus wie sechzehn. Manchmal fühle ich mich auch so.
Meine Haut ist blass wie Milch, aber ich bekomme nie Sonnenbrand. Keine Ahnung, woher ich das weiß, da ich doch im Moment keinen festen Körper habe. Ich weiß es einfach.
Mein Haar ist braun. Kein schönes, aber auch kein hässliches Braun. Einfach braun - und seltsamerweise ohne Glanzlichter. Derselbe einheitliche Farbton, jede einzelne Strähne glatt, gerade und absolut gleich. Es ist schulterlang und umrahmt schmeichelnd mein Gesicht, ein Gesicht, das oval und - so nehme ich an - okay ist. Meine Nase ist lang und gerade, meine Lippen sind weder zu dünn noch zu dick und meine Augen überirdisch scharf. Ich kann meilenweit sehen bei Sonne - oder Mondlicht, bei Regen oder Nebel. Ach ja, meine Augenfarbe Blau. Und mir ist nur kalt. Nie.

Das ist das Gesicht - mein Gesicht -, das ich im Spiegel sehe. Ich habe gelernt, dieses Nachbild zu erkennen, dieses Geistergesicht, eingeschlossen in einem anderen, fremden. Unsere Spiegelbilder existieren nebeneinander. Ich bin da, und sie ist ich, und zusammen bewohnen wir denselben Körper.

Wie das möglich ist? Ich weiß es nicht. Wir sind zwei Wesen, die nichts gemeinsam haben, nichts, was uns verbindet, außer dass ich im Augenblick der Grund bin, weshalb sie - wer immer das sein mag - sprechen, sich bewegen und lachen kann. Durch mich allein lebt sie.
Ich bin wie ein Grabräuber, ein Körperfresser, ein böser Geist.
Und sie? Mein Zombie-Alter-Ego, das tun muss, was ihm gesagt wird. Wenn ich tief über mich nachdenke, mich ungeheuer konzentriere, höre ich dieses eine Wort: Mercy.

Ich habe mir angewöhnt, mich so zu nennen, mangels etwas Besseren. Vielleicht ist es wirklich mein Name - aber wer weiß das schon?
Mein einziger Trost? Schlaf. Da es keine Erklärung für all das gibt, lebe ich dafür, für meine Schattenexistenz.
Obwohl ich anscheinend ständig wiedergeboren werde, habe ich in diesem neberverhüllten Leben doch einen Kompass, einen Prüfstein, an dem ich alles messen kann: Luc.
Er erinnert mich immer wieder daran, dass ich ihn Luc nenne soll, und er erscheint mir nur in meinen Träumen.

Sein Gesicht ist mir vertrauter als mein eigenes.
Luc hat kurz geschnittenes Haar, goldglänzend und wellig, schmale, geschwungene Augenbrauen von einem dunklen Gold, helle Augen, goldene Haut. Er ist groß, breitschultrig, hat schlanke, geschmeidige Hüften.
Luc sagt mir, dass ich nicht aufgeben solle, dass ich weitersuchen und ihn finden müsse. Eines Tages werde alles einen Sinn ergeben. Und dann werde es mir vorkommen wie ein Herzschlag, eine Sache von Sekunden. Eine kleine Unannehmlichkeit.
"Wenn Sie dich fangen", warnt er mich, werden sie dich mit Sicherheit töten. Und das, meine Liebe, ist kein Traum."
Diese Botschaft flüstert er mir zu, mit jenem Lächeln, das mir so vertraut ist.

Ich erwache mit seiner Warnung im Ohr. ALS ich zu mir komme, sitze ich aufrecht hinten in einem Bus voller kreischender, plappernder Mädchen, alle in den gleichen Schuluniformen. Ich starre auf den rot und grau gemusterten Rock, den ich unerklärlicherweise trage, und frage mich, aus welche Katastrophe ich da zusteuere und wer zum Teufel ich diesmal sein soll.

GefangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt