Ich wohne in Berlin. Die schönste Stadt der Welt und obwohl mir schon oft vorgeworfen wurde, dass ich's mit meinem "verdammten Berliner Patriotismus" übertreibe, bin ich immer die erste die Leuten, die zwar denken sie seien aus Berlin es aber nicht wirklich sind, erklärt, dass Berlin ein Lebensgefühl ist. Vor allem nach 2-3 Bier. Bier, noch so ein Berliner Ding. In München oder Düsseldorf trinken die jungen Mädels Sekt oder Cocktails, aber die Berliner nicht. Egal ob Männlein oder Weiblein, hier wird Bier getrunken oder, wenn man mal besonders philosophisch gestimmt ist, ein Weinchen während man in der Küche sitzt und eine raucht und übers Leben redet. Eigentlich traurig wie sehr man die Klischees bedienen kann, aber ich steh dazu. Berliner sein ist halt ein Lebensgefühl.
Alle eine verkappte Mischung aus Hipster, Indie und Abgefuckt. Überlegenheit gegen Schwaben und Ami's demonstrieren und bloß nicht auf offener Straße lächeln. Alle rauchen und Nachts wird Döner gegessen während das letzte bisschen Lippenstift verschmiert. Ironie und Sarkasmus sind Grundbestandteil jeden Charakters und wer zu nett ist, wird gefressen. Öfters hör ich Leute sagen, jedoch keine Berliner, dass Berlin die Leute in ihren Zwanzigern aufrisst und mit Mitte 30 wieder auskotzt: Und dann wird man 35, ist immer noch Single und verbringt Silvester alleine, während man sich fragt was man die letzten 10 Jahre geschafft hat und wie so oft ist die Antwort "Nichts".
Aber das stimmt so nicht. Man kann vielleicht nicht auf eine besondere Kariere zurückblicken und ist nicht verheiratet aber man hat gelebt. Ist von Club zu Club gesprungen, hat nen bisschen was probiert. Hatte seine philosophischen Abende in Küchen mit Wein und Dope und Zigaretten. Donnerstagabend ist man in eine Kneipe gegangen, um seine Freunde zu sehen bevor man am Wochenende zu beschäftigt war und weil Donnerstag ja fast Wochenende ist. Mit Ende 20 kommt der Tiefpunkt: Man sitzt morgens um 6 völlig verkatert bei Mohammed im Dönerladen und hat sein letztes Geld für nen Taxi ausgegeben weil man irgendwie zu alt ist um noch mit dem N6er durch die Gegend zu fahren und hinterfragt sein Leben. Aber es geht wieder aufwärts weil dann ist man ja 30 und steht quasi voll im Leben. Schwachsinn. Totaler Schwachsinn. Aber das weiß man wohl erst, wenn man mit 35 dann Silvester alleine feiert und das Highlight des Abends ne TK Pizza und das letzte bisschen Gin ist und es einen überhaupt nicht stört. Berlin ist zwar ne Metropole aber ich hatte nie das Gefühl es ist schnelllebig. Nix mit der "Live fast, die Young" Mentalität aus anderen Städten. Berliner sind immer etwas passiv-aggressiv und das in Kombination mit der lockeren Sicht auf Drogen, heißt wohl oder übel, dass mit 50 die Lichter aus sind. Keine Sorge, sterben tun die nicht aber man fängt an Geld zu sparen, weniger zu feiern, in den "ruhigen" Teil von Berlin zu ziehen. (Also an den Rand von Mitte oder irgendwo in Neukölln. Gott behüte nach Pankow oder Reinickendorf zieht da niemand!)Die beste Jahreszeit in Berlin ist Herbst. Warum? Also erstmal ist es für die meisten Touris schon zu kalt um auf der Straße herumzuirren und mir den Weg zu versperren. Stattdessen wälzen sich die endlosen Massen an Spaniern, Japanern und Amis durch Museen oder sitzen im 100 Bus. Es ist nicht mehr Sommer und man schwitzt nicht wie ein Schwein sobald man irgendein öffentliches Verkehrsmittel nutzt. Die letzten Festivals finden statt und man nimmt nochmal alles zusammen, bittet die Leber noch ein Mal durchzuhalten und kratzt die letzen Ersparnisse zusammen. Da werden echte Prioritäten gesetzt: Essen oder Festival? Jeder normale Mensch entscheidet sich für's Festival. Es folgen 6 Monate musikalisches Ödland und die Berliner Winterdepressionen, die nur durch gelegentliche Abende in vollgestopften Bars und Pubs unterbrochen wird. Man kann diese Abende als Pause sehen, von der ständigen schlechten Laune die man im Gesicht trägt, während man Weihnachtsgeschenke kauft und sich darüber ärgert seine Familie bald mal wieder sehen zu müssen. Und dann, Dezember und Januar, ständige Dunkelheit, weshalb man in der Bar nicht mal mitkriegt, dass es schon 6 Uhr morgens ist. Kalter Wind und der verdammte Schnee, der in der Stadt nur ne braune Pampe ist, welche den allgemeinen Gemütszustand wiederspiegelt. Sie treiben einen gerade zu in die Kneipen, die bis unter die Decke mit Menschen aus aller Welt gefüllt sind. Das ist die Zeit, in der jeder Berliner mal für 2 Monate seine trotzige Art ablegt und tatsächlich gewillt ist, andere Menschen kennen zulernen. Und so läufts dann auch. Die Jogginghose wird ausgezogen und gegen den üblichen "Ist mir alles egal, aber ich seh trotzdem gestylt aus"-Look getauscht und man schleppt sich auf "1,2 Bier" in die Kneipe. Letztendlich kommt man dann um 6 Uhr früh aus der Kneipe getorkelt und hat Brian aus Australien und Harry aus England kennengelernt, verspricht sich nochmal zu schreiben, aber wenn man am nächsten Tag (irgendwann um 15 Uhr) aufwacht, kann man sich daran nicht erinnern und löscht panisch alle Nummern. Man ist ja Berliner und die wollen niemand Neues kennen lernen.
Aber das heißt nicht, dass man hier einsam ist. Ganz am Anfang bevor diese "Ich hasse alle"-Mentalität durch Latte Macchiato Mütter und Schwaben gestärkt wurde, hat man Freunde gefunden und Berliner Freunde sind solche, die man auch irgendwie nicht mehr los wird. Die sind wie Unkraut.
Jeder Berliner hat seinen festen Freundeskreis und da ändert sich auch nicht viel. Das hat was damit zu tun, dass niemand jemand Neues kennen lernen will. Der Freundeskreis bleibt bestehen auch wenn man sich mal schlägt und nen Jahr nicht redet aber im Endeffekt finden alle wieder zusammen.
Schon abgedreht, dass mit den Freundschaften in der Mutterstadt.
Aber noch komplizierter wird's bei der Liebe. Die Funktionalität von Beziehungen ist echt immer ziemlich relativ. Das liegt aber auch daran, dass das Angebot hier so groß ist. Jeder Typ Mensch findet hier jemanden, da brauch man nicht ab 21 Monogamie zu predigen. Da nimmt doch lieber alles bis Mitte/ Ende 30 mit.
Als Single ist es wie in nem 5 Sterne Hotel. (Ich seh das mal aus der weiblichen Perspektive aber für Kerle is es dasselbe.) Wenn man single ist, gibt es mehrere Arten das alles anzugehen. Kommt halt immer son bisschen drauf an, was man genau will. Aber nehmen wir mal an, man will nur Spaß.
Das is nämlich auch der Trend hier; Gefühle sind scheiße. Glauben echt viele.
Man kann auf die bereits genannten Kneipentouren hoffen und sich einmal um die Welt vögeln und im Sommer ist man sowieso immer mit den ganzen anderen Berlinern auf Festivals oder in irgendwelchen Parks, da lernt man schon jemand kennen. Man kann auch im Freundeskreis bleiben, mit seinen Bedürfnissen, aber wenn man (wie fast jeder hier) seinen ohnehin schon kleinen Freundeskreis nicht unbedingt noch minimieren will, kann man auch auf den Freundeskreis von Bekannten oder dem Mitbewohner zurückgreifen. Und um nicht die Schlampe zu sein, reicht auch nur ein Freund und nicht alle. Kleiner Tip.
Schwer wird's eigentlich nur, wenn man als Single in Berlin ne Beziehung sucht. Vor allem von 15 bis 35. Kein Arsch will da ne Beziehung, in den 20 Jahren trift man lieber zweifelhafte Entscheidungen und nimmt alles mit was geht. Da braucht man keinen Partner, der einem sagt wie schlecht der viele Alkohol ist. Außerdem hat ja auch niemand Geld für irgendwelche Geschenke zum Jahrestag und dem ganzen anderen Mist. Ich meine, wenn man schon vor der Wahl zwischen Essen und Festival steht, passen irgendwelche Geschenke da sowieso nicht mehr rein. Als Single, der ne Beziehung sucht, muss man auf sein Glück hoffen oder verzweifelt genug sein. Den Freund/die Freundin kann man auch bei nem Barabend, im Freundes- oder Bekanntenkreis kennen lernen. Oder halt auch nicht.
Bleibt einfach möglichst lange single. Geht mit euren Freunden öfter einen trinken und wacht völlig dicht um 8 Uhr morgens in der Ringbahn auf, nur um festzustellen, dass ihr seit 3 Stunden im Kreis fahrt. Der Trend geht auch eher zu Freundschaft Plus. Is quasi wie ne Beziehung, nur anstatt im Herbst Geld für nen Geschenk und nicht für die nächste Festival Karte auszugeben, wird euch euer Freund (Plus) fragen, ob ihr aufs Festival geht. Wie das enden wird, wissen wir alle.Ach Berlin. So sehr der Patriotismus 364 Tage auch ausgerufen wird, fast jeder hat einen Tag im Jahr, wo nix mehr geht. Da is der Obdachlose, der lallend verkündet wie heiß man ist, nicht mehr charmant. Auch der schlechte Straßenmusiker oder das hintergebrüllte "Halt dein Maul!" nachdem du nen Typen an der Ampel angeranzt hat, zaubern dir kein Lächeln auf's Gesicht. Selbst die größte Berlin-Hymne bringts nicht mehr und für ne Sekunde starrt man auf die graue Wand, die mit Graffitis bedeckt ist und vor der ne Pisse-Fütze über das Kopfsteinpflaster rinnt, und fragt sich was zur Hölle das alles noch soll und ob es nicht doch langsam Zeit wäre Nimmerland zu verlassen und was mit sich anzufangen. Aber was? Gedankenverloren schlendert man die Torstraße runter, weicht man den Touristen aus und hält vorm Späti. Mal wieder Zeit Filter zu kaufen. Läuft wie automatisch zum Kühlschrank, greift nach nem Berliner Pilsner, Urquell oder nem Sterni und geht zur Kasse.
Nuschelt was von Filtern, klatscht das Geld auf den Tresen. Draußen wird erst eine Kippe gedreht, angezündet. Dann das Feuer an den Kronkorken gesetzt und mit nem lauten "Plop" öffnet sich die Flasche. Der erste Zug und der erste Schluck Bier und schon ist es wieder alles ein bisschen besser. Die Berlin-Hymne wird auf volle Lautstärke gedreht, bis die Kopfhörer gegen's Trommelfell puckern.
Man schaut hoch und erkennt wie geil diese Stadt ist. Man erkennt, dass man sehr wohl schon was erreicht hat und das man noch nen paar gute Jahre vor sich hat. Bis man 35 ist, hat man keine Sorgen, denn alles pulsiert und man ist mitten drin, wie im Rausch.

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Berlin, ick liebe dir.
HumorEine Hommage an Berlin. Für mich gibt's nur eine Stadt, da bin ich konsequent. Ich kenn ne Menge Leute, die immer wieder fragen: "Warum Berlin?" Aber mal ernsthaft, was ist das für eine Frage?