Kapitel 12

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Ich schlenderte durch die Straßen des Dorfes, bis ich mich schließlich entschied, noch einen kurzen Abstecher bei dem kleinen Supermarkt zu machen.
Als ich den Laden betrat, erblickte ich die unfreundliche Kassiererin, die gerade etwas in die Tiefkühltruhe einräumte. Sie warf mir lediglich einen desinteressierten Blick zu und kaute weiter auf ihrem Kaugummi herum, während sie die Fertigpizzen stapelte.
Ohne sie zu beachten, lief ich an ihr vorbei zum Süßwarenregal. Wenn ich die Zeitungsartikel tatsächlich heute lesen wollte, würde ich wahrscheinlich einiges an Nervennahrung und Taschentüchern brauchen. Letzteres stand überall im Haus herum, da meine Oma es nicht leiden konnte, wenn jemand eine verschnupfte Nase hatte und diese nicht putzte. Somit fehlte mir nur ein kleiner Vorrat an Gummibärchen. Bedauerlicher Weise war es für Schokolade viel zu warm. Bis ich diese nach Hause gebracht hätte, wäre sie bestimmt schon längst geschmolzen.
Bevor ich etwas aus dem Regal nahm, besah ich mir die unterschiedlichen Süßigkeiten genauer und wägte ab, wie viel ich von dem Kleingeld in meiner Hosentasche kaufen konnte. Gerade als ich nach einer Packung Gummibärchen griff, spürte ich, wie jemand mir auf die Schulter tippte.
Kurz zuckte ich zusammen, doch dann drehte ich mich um. Fast erwartete ich, Tristan vor mir stehen zu sehen. Doch dem war nicht so und ich brauchte einen winzigen Augenblick, um mich daran zu erinnern, wer mir da fröhlich zulächelte.
"Isabelle, das ist ja wirklich schön, dich wieder zu sehen. Wie geht es dir, mein Kind?", fragte der Mann und strahlte mich an, als habe er soeben eine Million Euro gewonnen.
"Gut, danke, Bernd", erwiderte ich und reichte dem Pfarrer die Hand.
"Das freut mich." Seit ich ihn das letzte Mal getroffen hatte, hatte er sich kaum verändert. Lediglich seine graubraune Haarpracht war etwas lichter geworden und sein Bauchansatz hatte etwas zugenommen. Aber ansonsten schien er noch genau derselbe zu sein und hatte nichts von seiner Liebenswürdigkeit verloren.
Er war stets darum bemüht, sich um jeden zu kümmern und hatte immer einen aufmunternden Spruch auf den Lippen. Besonders sein Lächeln war wirklich herzerwärmend und man konnte nicht anders, als ihn zu mögen. Denn dann färbten sich seine fülligen, beinahe pausbäckigen Wangen rosarot und seine kleinen, braunen Augen begannen zu funkeln.
"Gehst du mit deinen Großeltern am Sonntag zur Messe?", fragte er und faltete die Hände vor dem Bauch, wo sein karriertes Hemd bereits etwas spannte.
"Ich weiß es nicht, aber ich würde auf jeden Fall gerne kommen", antwortete ich. Und das war noch nicht einmal gelogen. Der Gottesdienst hier im Dorf war der einzige, den ich ohne zu murren besuchte und für den ich mich auch Sonntag morgens früh aus dem Bett quälte. Bernd war einfach zum Pfarrer geboren. Das Thema seiner Predigten konnte noch so langweilig sein und doch schaffte er es stets, es in eine mitreißende Rede zu packen, sodass die Leute förmlich an seinen Lippen hingen und ich hatte noch nie jemanden währenddessen gähnen sehen.
"Wie geht es deiner Mutter?", fragte er mich.
"Gut, auch wenn sie vom vielen Arbeiten oft gestresst ist", antwortete ich.
"Mitgekommen ist sie aber nicht, oder?" Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und er musterte mich stattdessen mit besorgtem Blick. Dass meine Mutter das Dorf schon lange nicht mehr betreten hatte, war ihm wohl noch immer unangenehm. Er wollte nur das Beste für seine Schäfchen und Oma hatte einmal beiläufig erwähnt, dass er sich Vorwürfe gemacht hatte, weil er damals nicht genug für sie getan habe. Was jedoch gar nicht stimmte, denn meiner Großmutter nach hatte er während dieser Zeit stundenlang bei ihr gesessen und mit ihr geredet.
"Nein", seufzte ich. "Ich habe alles versucht, aber du weißt ja, wie sturrköpfig sie sein kann, wenn es darum geht."
"Leider ja", entgegnete er und ließ seine Schultern hängen. Für einen Moment keimte in mir das Bedürfnis auf, ihn zu umarmen und zu trösten, weil er so enttäuscht von sich selbst zu sein schien. Doch im nächsten Augenblick war das Gefühl wieder verflogen.
"Was sie sich einmal geschworen hat, setzt sie auch durch", sagte ich. "Und davon kann sie niemand mehr abbringen."
"Ich weiß", erwiderte er und schwieg einen Moment lang. Dann nickte er mir zu. "Wir sehen uns dann am Sonntag in der Messe."
"Gerne", antwortete ich und warf ihm ein Lächeln zu. Schon jetzt freute ich mich auf die beinahe festliche Atmosphäre in der Kirche und seine Predigt. Eigentlich war meine gesamte Familie protestantisch, doch hier interessierte sich niemand dafür. Alle Dorfbewohner besuchten denselben Gottesdienst, weil es der beste und einzige in der Umgebung war. Die kleine Kirche war vor langer Zeit von Katholiken gebaut worden, aber inzwischen waren die Messen ökumenisch. Längst hatte ich den Überblick verloren, welche Dorfbewohner überhaupt katholisch und welche evangelisch waren.
Bernd hob noch einmal die Hand, bevor er seinen vollen Einkaufswagen in Richtung Kasse schob. Es kam mir so vor, als würde er etwas gebeugter laufen, als würde ihn eine imaginäre Last zu Boden drücken. Doch das konnte auch lediglich Einbildung sein.
Ich wendete mich wieder dem Regal zu und nahm mir zwei Packungen Gummibärchen. Das war hoffentlich genug, um den Frust und die Trauer zu mildern, die das Lesen der Zeitungsartikel wahrscheinlich in mir auslösen würde. Bereits jetzt bekam ich einen dicken Kloß im Hals, wenn ich daran dachte. Was Yasmin betraf, war ich einfach zu zart besaitet.
Morgen konnte ich dann hoffentlich alles Tristan zurückgeben, nachdem ich mich selbst auf den aktuellsten Stand der Dinge gebracht hatte. Ob er wohl schon Vermutungen hatte, wer meine achtjährige Schwester damals umgebracht hatte? Aber wollte ich das überhaupt wissen? Denn ich traute niemandem einen Mord zu. Der Umgangston auf dem Land war zwar oft ruppig und nicht gerade freundlich, doch je näher man die Menschen kennenlernte, desto mehr schloss man sie ins Herz. Selbst der grobschlächtigste Bauer tat in Wahrheit bestimmt keiner Fliege etwas zuleide.
Es war eine verzwickte Situation, in die ich da hineingeraten war. Einerseits brannte ich darauf, von Tristans Verdächtigungen zu erfahren, andererseits hatte ich Angst, dass ich dadurch jemandem Unrecht tat, indem ich ihm etwas anheftete, was er nie begangen hatte.
Seufzend lief ich mit langsamen Schritten zu der Kassiererin, die ungeduldig mit den manikürten Fingernägeln auf der Kasse herumtrommelte. Wortlos scannte sie die zwei Packungen ein und machte sich nicht einmal die Mühe, mir den Preis zu nennen, sondern deutete lediglich auf die Anzeige.
Die Freundlichkeit des Personals war definitiv unvergleichbar. Selbst die gestressteste Bedienung und der gelangweilteste Mitarbeiter hatten zumindest ein 'Bitte' und 'Danke' für den Kunden übrig, nicht so hier. Mit Nachdruck legte ich die Münzen vor die Frau hin und setzte dabei ein gekünsteltes Lächeln auf, von dem ich mir erhoffte, dass es nichts Natürliches mehr an sich hatte.
Unbeeindruckt ließ sie eine zartrosa Kaugummiblase platzen und würdigte mich keines weiteren Blickes, während ich ihr die Tüten förmlich aus der Hand riss und aus dem Laden stapfte.
Wäre dies nicht der einzige Supermarkt im ganzen Dorf und würde ich die liebenswerte Inhaberin nicht kennen, hätte ich vermutlich nie wieder einen Fuß über die Schwelle gesetzt. Warum stellte man nur eine solche Frau ein, die praktisch die Unfreundlichkeit in Person war? Da würde ich lieber von einem stotternden, nervösen Auszubildenden bedient werden, dem die ganze Zeit das Geld aus der Hand rutschte und der nicht wusste, wo welche Waren standen.
Meine Laune war eben merklich gesunken und ich kickte einen Kieselstein vor mir her, während ich zum Haus meiner Großeltern zurückkehrte. Hoffentlich war die Kassiererin nur eine Aushilfe in den Ferien, denn ansonsten würde ich mich nicht wundern, warum der Laden oft so leer war. Dass die Kundschaft bei so einer Unfreundlichkeit nicht längst fernblieb, war mir sowieso ein Rätsel.
Als ich durch das geöffnete Gartentor trat, sah ich, dass die Haustür nur angelehnt war. Apollo hatte es sich wieder auf dem Fußabtreter gemütlich gemacht und leckte seine Pfoten. Aus dem Inneren des Hauses hörte ich vertraute Stimmen und erkannte sofort, wer Oma und Opa da einen Besuch abstattete.
Christels Lachen war wirklich unverkennbar. Das konnte man bestimmt schon einen Kilometer gegen den Wind hören. Irgendwie klang es für mich stets wie eine Mischung aus glucksenden Lauten und Ersticken.
Leise zog ich meine Schuhe aus und begab mich ins Wohnzimmer, wo Oma und Christel am Tisch saßen. Meine Großmutter kicherte und wischte sich die Lachtränen von den Wangen, während ich den Raum betrat. Automatisch musste ich grinsen. Die beiden waren das beste Beispiel dafür, dass man sich auch noch in ihrem Alter über Dinge amüsieren konnte, wie man es als Jugendlicher heutzutage tat.
Opa saß teilnahmslos in seinem Ohrensessel und blätterte in einer Zeitschrift, als nehme er die Frauen gar nicht wirklich wahr. Mit der Zeit gewöhnte man sich wahrscheinlich daran. "Hallo, Isabelle", sagte Oma und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Ich ließ mich neben ihr nieder und wartete, bis auch Christel sich wieder fing und sich erschöpft im Stuhl zurücklehnte. "Das ist wirklich das Beste, was ich seit Langem gehört habe."
Einerseits fragte ich mich, was sie so lustig fand, andererseits wollte ich damit nicht für weiteres Gelächter sorgen. "Ich kann das Fahrrad morgen Nachmittag abholen", meinte ich, um das Thema zu wechseln.
"So schnell schon? Das ist ja toll", erwiderte Oma erstaunt und fuhr sich mit der Hand über die geröteten Wangen.
"Ist etwas kaputt?", fragte Christel und ich nickte.
"Gestern bin ich in eine Glasscherbe gefahren und nun hat der Reifen einen Platten", erklärte ich und nahm mir eines der Gläser, die auf dem Tisch standen, um mir Wasser einzuschenken. Mein Mund fühlte sich trocken an und meine Zunge klebte bereits etwas am Gaumen.
"Können wir beide vielleicht für einen Moment nach oben in dein Zimmer gehen?", erkundigte Christel sich und ich zog verwundert die Augenbrauen zusammen. "Wir müssen über etwas reden."

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