Kapitel 13

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"Worüber denn?", antwortete ich sofort und nahm einen Schluck. Auch meine Oma schaute ihre beste Freundin skeptisch an. Anscheinend wusste auch sie nicht, was Christel mir sagen wollte.
Denn diese schüttelte auf meine Frage hin den Kopf und machte mir ein Handzeichen, aufzustehen und ihr zu folgen. Misstrauisch sah ich meine Großmutter an, die nur mit den Schultern zuckte und mir dann zunickte.
So erhob ich mich und stieg hinter Christel die Treppen ins Obergeschoss hinauf, wo sie sich auf das Sofa setzte und mir bedeutete, es ihr gleichzutun. Sie fuhr sich mit den Fingern durch eine dünne Haarsträhne und ich geriet in Versuchung, sie ein weiteres Mal darauf anzusprechen, was sie mir mitteilen wollte. Doch ich hielt meinen Mund geschlossen und wartete darauf, dass sie von sich aus das Wort ergriff.
"Es geht um Tristan", begann sie schließlich zögernd. "Ich habe gehört, dass du gestern bei ihm warst."
Das Dorf hatte wirklich überall Ohren. Auf irgendeinem Weg erfuhr Christel von jeder Kleinigkeit und jedem noch so unwichtigen Ereignis. Vor ihr konnte man wahrscheinlich nichts verstecken.
"Ja, und?", entgegnete ich und unterzog meine Fingernägel einer gründlichen Betrachtung.
"Über was habt ihr geredet?", fragte Christel ohne Umschweife.
Ich setzte einen gleichgültigen Blick auf. "Über alles, worüber du nicht mit mir sprechen wolltest."
"Dann hat er dir also erzählt, wieso ich dir nichts gesagt habe?"
"Unter anderem."
"Er steckt so viel Elan hinein, alles über Yasmin und das Dorf zum Zeitpunkt ihres Todes herauszufinden. Ich glaube, er ist fest dazu entschlossen, das aufzuklären, obwohl sich die Polizei bis heute die Zähne daran ausbeißt. Und er wird nicht eher Ruhe geben, bis er zu einem Ergebnis gekommen ist", murmelte Christel.
"Ja, so hat er sich auch angehört", meinte ich. "Außerdem will er, dass ich ihm dabei helfe. Obwohl ich nicht denke, dass das von Erfolg gekrönt sein wird."
"Ein bisschen hat er mir auch von seiner Theorie erzählt. Dass der Mörder noch immer hier im Dorf sei." Sie sah mich an und ich schaute ihr direkt in die Augen, als ich aufblickte. "Wenn das stimmt, dann lass bloß die Finger davon!"
"Warum?", fragte ich und zog eine Grimasse. "Tristan hat doch extra dafür gesorgt, dass niemand davon erfährt."
"Es gibt immer eine Möglichkeit, etwas herauszufinden. Und das ist meistens eine undichte Stelle. Sobald sich jemand verplappert, dem ihr aufgefallen seid, wird der Mörder es merken", sagte Christel und ihre tiefe Stimme klang unheilvoll.
"Das wird nicht passieren. Außerdem will ich ihm nur Informationen geben, die er braucht. Ich bin an der Sache also nur passiv beteiligt, keine Sorge", erwiderte ich beschwichtigend.
"Auch das kann derjenige merken. Nach allem, was passiert ist, könntet ihr beide auf seine Abschussliste geraten, falls ihr nicht vorsichtig genug seid", sagte sie und legte ihre langen Finger um mein rechtes Handgelenk. Dabei schaute sie mir tief in die Augen und ich sah Sorge darin stehen.
"Es wird nichts geschehen", wiederholte ich. "In weniger als drei Wochen bin ich sowieso nicht mehr hier und ich glaube weder, dass Tristan den Mörder in der Zeit finden, noch dass dieser uns auf die Spur kommen kann."
"Das Dorf hat überall Ohren", fügte Christel hinzu. Sie wusste das wahrscheinlich am besten. Woher kannte sie sonst jedes Gerücht, bevor es sich von selbst unter den Bewohnern verbreiten konnte?
"Bis jetzt hat doch noch niemand etwas mitbekommen", meinte ich. "Es gibt also keinen Grund, wieso sich das ändern sollte."
Christel seufzte und lockerte den Griff um mein Handgelenk. Für einen Moment wirkte sie, als habe das Gespräch sie erschöpft und müde gemacht. Die sonst kaum wahrnehmbaren Augenringe traten stärker unter ihrer blassen Haut hervor und ihre Augen glänzten, aber im nächsten Augenblick war sie wieder ganz die alte.
Aufmunternd lächelte ich ihr zu. Zwar konnte ich ihre Sorge nachvollziehen, jedoch hatte ich bei meinem gestrigen Besuch gemerkt, dass Tristan alles sehr ernst nahm. Er würde mit Sicherheit nicht nachlässig sein und die Aufmerksamkeit des Mörders durch eine unüberlegte Handlung auf uns lenken.
"Du solltest das nicht alles auf die leichte Schulter nehmen", insistierte sie noch einmal. "Nur eine winzige Unaufmerksamkeit könnte euch den Kopf kosten."
"Es wird nicht passieren!" Meine Stimme klang genervt, als ich noch einmal das aussprach, was ich bereits die ganze Zeit beteuert hatte.
Christel seufzte theatralisch und ich hätte beinahe die Augen verdreht, wenn ich mich nicht im nächsten Moment damit zurückgehalten hätte. Ihre Botschaft war bei mir angekommen, auch wenn sie das nicht ganz zu verstehen schien. "Hoffentlich geht das gut", meinte sie leise.
"Bis jetzt weiß niemand außer dir und mir von Tristans Vorhaben. Wenn keiner von uns beiden etwas Falsches sagt oder irgendwelche Andeutungen macht, erfährt niemand davon", erwiderte ich. Hauptsache Christel hielt dicht und ließ sich nicht dazu verleiten, jemandem etwas darüber zu erzählen.
"Ich werde kein einziges Wort über das alles verlieren", versprach sie und nickte. "Die Sorge nimmt mir das trotzdem nicht."
Darauf wollte ich definitiv nicht weiter eingehen und so stand ich kurzerhand einfach auf. "Ich muss dringend noch etwas trinken, kommst du mit?"
Die Ausrede war zwar nicht preisverdächtig, aber sie erfüllte ihren Zweck. Christel erhob sich ebenfalls und ich atmete erleichtert aus, da sie mich in der Gegenwart meiner Großeltern nicht in ein Gespräch verwickeln können würde. Zumindest nicht über dieses Thema.
Gemeinsam gingen wir die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo ich ein paar Mal an meinem Wasserglas nippte und unauffällig wieder aus dem Raum verschwand, als Christel Oma etwas berichtete.
Einerseits musste ich mir eingestehen, dass ihre Sorgen begründet waren und es wirklich passieren konnte, dass der Mörder davon Wind bekam, dass wir ihn suchten. Ob Tristan wohl auch für diesen Fall einen Plan hatte? Zwar war es überaus unwahrscheinlich, deswegen jedoch nicht unmöglich.
Ratlos ließ ich mich im obersten Stock auf mein Bett fallen und starrte ins Leere. Wie würde es nur ausgehen, wenn Christels Befürchtungen tatsächlich eintraten? Würden wir dann beide so enden wie meine Schwester?
Ich biss mir auf die Lippe und griff nach der Mappe, die ich neben mein Bett gelegt hatte. Sie war unbeschriftet und ich überlegte einen Augenblick lang, ob ich sie öffnen oder es lieber bei meinem jetzigen Wissensstand belassen sollte. Doch die Neugier siegte und ich schlug die Mappe auf.
Ganz vorne befanden sich die Weihnachtskarten, die ich bereits bei Tristan begutachtet hatte.
Vorsichtig nahm ich sie heraus, immer darauf bedacht, auf den Fotografien keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Das Bild im Jahr der Geburt meiner Schwester berührte mich noch immer. Meine Eltern strahlten beide in die Kamera und man sah ihnen an, wie glücklich sie nach der Geburt ihres ersten Kindes waren.
Mamas dunkelbraune Haare ergossen sich in sanften, glänzenden Wellen über ihre Schultern und man konnte das Funkeln in ihren blaugrünen Augen beinahe erkennen. Für mich war sie bis heute eine der schönsten Frauen, die ich bisher getroffen hatte.
Mit einem Lächeln legte ich die Karten beiseite und widmete mich dann dem übrigen Inhalt der Mappe. Die Zeitungsartikel, die nun folgten, waren mit einer Büroklammer ordentlich zusammengeheftet und ich erblickte sogleich das Datum, dass ich vermutlich nie vergessen würde. Mein Herz stockte kurz und mir wurde kalt. An diesem Tag hatte alles begonnen. Zunächst nur relativ harmlos, bis es sich zu einem absoluten Albtraum entwickelt hatte.
Wie hatte sich meine Familie wohl damals gefühlt? Gab es überhaupt einen Weg, so etwas zu beschreiben? Vielleicht empfand man in diesem Moment auch nichts mehr.
Langsam zog ich den Zeitungsartikel aus dem kleinen Bündel heraus und legte ihn vor mich, um ihn besser betrachten zu können. Das kleine Bild meiner Schwester am Rand des Artikels war unscharf und ich konnte kaum etwas darauf erkennen.
Ein weiteres Mal fiel mein Blick auf das Datum. Es war der Anfang vom Ende gewesen.
Bevor der erste große Artikel über meine Schwester erschienen war, war zuerst ein kleinerer gedruckt worden, der in etwa die Größe einer Anzeige gehabt hatte. Es stand nicht mehr darin als ihr Name, Alter, der Platz, die Zeit und der Ort, an dem man sie zuletzt gesehen hatte, sowie die Telefonnummer der Polizeistelle, bei der man anrufen sollte, falls man ihr begegnet war oder wusste, wo sie sich aufhielt. Noch immer war es mir ein Rätsel, warum man nicht gleich intensiver nach meiner Schwester gesucht hatte. Immerhin kehrten achtjährige Mädchen normalerweise nicht einfach so nicht mehr nach Hause zurück.
Unschlüssig hielt ich den Zeitungsausschnitt in der Hand, abschätzend, ob ich den nächsten lesen wollte. Aber dann gab ich mir einen Ruck. Der folgende Artikel war jener, den ich bereits bei Tristan angeschaut hatte. Dieser beschäftigte sich eingehender damit, dass Yasmin nun bereits seit mehreren Tagen verschwunden war, nachdem sie vom Spielplatz nicht mehr nach Hause gekommen war. Und dass man keine Hinweise hatte, wo sie sich aufhielt.
Ich seufzte und mein Blick fiel auf das Bild, das über dem Kopfkissen hing. Das Familienfoto zeigte meine Eltern und Yasmin kurz vor deren Verschwinden. Es war die letzte Aufnahme, die noch mit allen drei gemacht worden war.
Alle sahen so glücklich aus und ich bekam ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, was sie wohl gedacht hätten, wenn sie gewusst hätten, dass bald nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.
Yasmin war oft zum Spielen auf den Spielplatz gegangen, da es hier keine gleichaltrigen Kinder gegeben hatte. Mal war sie zusammen mit Oma oder Opa dort, mal alleine. Sorgen, dass jemand ihr etwas antun konnte, wenn sie ohne ihre Großeltern dort war, machte sich keiner. Schließlich war so etwas bis zu diesem Zeitpunkt noch nie im Dorf und der näheren Umgebung vorgefallen. Außerdem lag der Spielplatz nur ein paar Straßen entfernt und niemand hatte Bedenken, sie für ein bis zwei Stunden unbeaufsichtigt zu lassen.
Ein fataler Fehler, wie es sich an jenem verhängnisvollen Tag im September herausstellen sollte.

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