Kapitel 14

563 51 4
                                    

Denn an diesem Tag war Yasmin nicht nach Hause zurückgekehrt. Zuerst hatte man angenommen, dass sie sich nur verspätet, aber als es Abend wurde und die Dämmerung hereinbrach, hatte meine Familie begonnen, sich Sorgen zu machen und war schließlich losgegangen, um meine Schwester zu suchen.
In meinem Kopf spielten sich die Bilder ab, die mir immer in den Sinn kamen, wenn ich daran dachte. Meine Eltern, wie sie über den Spielplatz und die umliegenden Felder liefen, immerzu Yasmins Namen ausrufend. Wie Mama sich schließlich auf den Boden setzte und weinte, als sie sie auch nach mehrstündiger Suche und Fragen bei den Dorfbewohnern in der Nähe nicht gefunden hatten.
Ich schluckte und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Oma hatte dann die Polizei verständigt, die aber erst am nächsten Tag nach Yasmin suchen konnte, da es mitten in der Nacht gewesen war.
Doch auch am folgenden Tag hatte man Yasmin nicht ausfindig machen können und man nahm an, dass sie nur weggelaufen war und bald von alleine zurückkommen würde, wie es bei den meisten Vermisstenfällen üblich war. Deshalb erschien zunächst nur der winzige Artikel in der Lokalzeitung.
Aber niemand hatte meine Schwester gesehen. Es gingen zwar Dutzende Hinweise ein, jedoch erwiesen sich die meisten lediglich als Hirngespinste. Die Polizei suchte noch einmal den Spielplatz ab, wo sie allerdings keinerlei Spuren fanden, die auf Yasmins Verbleib hindeuten könnten. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
Man veranstaltete sogar eine Suche mit Spürhunden, Helikoptern und Wärmebildkameras, doch auch das blieb erfolglos.
Ich warf einen kurzen Blick auf die nächsten Artikel, jeder größer und ausführlicher als der vorherige. Mal ausschließlich mit einer Großaufnahme von Yasmin, mal mit einem Foto meiner Eltern daneben.
Wie hatten sie diese Zeit nur aushalten können? Wahrscheinlich wäre ich nach mehreren Tagen am Boden zerstört gewesen und hätte jegliche Lebenslust verloren. Vor allem, als Yasmin Ende Oktober noch immer nicht aufgetaucht war und man begann, von einem Verbrechen auszugehen.
Der Zeitungsausschnitt, der diese Vermutung zum ersten Mal klar nannte, ließ mich trotz der Wärme zittern und ich presste die Zähne so fest aufeinander, dass es weh tat. Yasmin lächelte mir von dem Foto zu und zeigte dadurch ihre Zahnlücke. Sie sah so unbeschwert und glücklich aus, was mir endgültig die Tränen in die Augen trieb.
"Achtjährige möglicherweise Opfer eines Verbrechens?" schrie die Überschrift mir förmlich entgegen und ich war versucht, das Papier zu zerknüllen. Doch das Bewusstsein, dass ich die Mappe vollständig und in gutem Zustand zurückgeben sollte, hinderte mich daran. Zumal Tristan die meisten Dinge lediglich von Christel geliehen bekommen hatte.
Hatte sich Mama genauso gefühlt, als man ihr gesagt hatte, dass ihr Kind vermutlich entführt worden war?
"Die Polizei schließt eine Entführung nicht aus", las ich und bereute es, die Gummibärchen unten liegen gelassen zu haben. Schnell überflog ich den Artikel, aber es stand nichts mehr darin, was ich noch nicht wusste.
Auch Ende November war Yasmin noch nicht zurückgekehrt und man hatte keine Spur davon gefunden, wo sie sich aufhalten könnte oder ob sie überhaupt noch lebte. Die Frage nach einem möglichen Mord hatte die Presse zwar nirgendwo ausdrücklich formuliert, aber sie schien unterschwellig hinter jedem Satz zu stehen. Wie ein Raubtier, das sich hinter einem Baum die Krallen wetzte und nur darauf wartete, sie dem nächsten in die Kehle zu schlagen.
Oma beteuerte stets, dass sie nie die Hoffnung aufgegeben hätten, dass Yasmin nicht doch noch einfach so zurückkehrte. Aber mit jedem Zeitungsinterview wirkten meine Eltern darin pessimistischer, was ich ihnen nicht verübeln konnte.
Das Rätsel um meine Schwester wurde immer größer, bis sich schließlich auch überregionale Zeitungen und das Fernsehen mit ihrem Verschwinden beschäftigten.
Den Artikel aus der "Bild" legte ich absichtlich ungelesen zur Seite. Alles andere wäre emotionaler Selbstmord.
Als nächstes nahm ich einen weiteren Pressebericht in die Hand, an den ein winziger Ausschnitt aus einer Fernsehzeitschrift angeheftet worden war.
Damals waren aufgrund der überregionalen Bekanntheit des Falles tonnenweise Hinweise aus der Bevölkerung aufgetaucht, denen nach man Yasmin sogar mehrmals gesehen haben wollte. Der Fall wurde immer größer und schließlich sogar auch einmal im Fernsehen ausgestrahlt. Doch trotz intensiver Ermittlungen konnte die Polizei sie nicht finden. Man hielt meine Familie zwar stets auf dem Laufenden, jedoch ließ sich nicht verstecken, dass man im Dunkeln tappte und keinerlei Fortschritte machte.
Noch heute beschwerte Oma sich manchmal darüber, dass die Polizei nicht einmal eine einzige brauchbare Spur gehabt, sie aber trotzdem mit Ausreden und Versprechungen abgespeist habe.
Meine Familie hatte wirklich alles versucht, um Yasmin zu finden. Sie hatten Plakate von ihr aufgehängt, von denen ebenfalls eines in der Mappe lag, waren auf eigene Faust losgezogen und hatten sogar einen Privatdetektiv engagiert, was sich jedoch als Reinfall entpuppte, da dieser kaum einen Finger rührte.
Ich konnte mich gut daran erinnern, wie Oma gesagt hatte, dass Weihnachten in diesem Jahr das traurigste und trostloseste gewesen sei, das sie je erlebt habe. Für mich war es unvorstellbar, ein Fest zu feiern, wenn ein Familienmitglied fehlte und man nicht wusste, wo es sich aufhielt und ob es überhaupt noch lebte. Ähnlich musste es wohl auch meinen Eltern und Großeltern ergangen sein.
Besonders für meine Mutter hatte es die reinste Tortur dargestellt. Sie war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger gewesen, eine weitere, zusätzliche Belastung.
Mitte Januar kam ich schließlich zur Welt. Ich wurde zwischen Hoffen und Bangen geboren.
Yasmin kehrte einfach nicht zurück, so sehr es sich meine Familie auch wünschte und dafür betete. Dass ich, ihre zweite Tochter, kerngesund das Licht der Welt erblickt hatte, war nur ein kleiner Trost gewesen und hatte den Schmerz lediglich für ein paar Momente überdecken können. Denn meine große Schwester fehlte und ich war mir sicher, dass sie bestimmt gerne bei meiner Geburt dabei gewesen wäre.
Auf allen Fotos, die ich heute besaß und die mich im Alter von ein paar Wochen zeigten, lächelten die Anwesenden gequält darauf, sodass es mir jedes Mal das Herz zusammenzog, wenn ich sie betrachtete. Einerseits verstand ich, wie tief die Trauer sitzen musste, andererseits könnte ich weinen, weil sich niemand wirklich über meine Geburt freuen konnte. Obwohl ich dies voll und ganz nachvollziehen konnte, war es doch ein scheußliches Gefühl. Als habe man mich ganz vergessen und als sei ich nur eine unwichtige Nebenfigur.
Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und ich wischte sie beschämt weg. Meine Familie hatte wirklich einen guten Grund gehabt, sich so große Sorgen um meine Schwester zu machen.
Aus Erzählungen wusste ich, dass Christel oft auf mich aufgepasst hatte, wenn es Mama schlecht gegangen war. Was häufig der Fall gewesen war, da sie selbst im Februar die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatte, ihre Tochter doch noch zu finden. Die Polizei hatte ihr zwar versichert, dass die Wahrscheinlichkeit mit jedem Tag sank, sie lebend wiederzufinden, aber meine ganze Familie hatte den Glauben daran, Yasmin doch noch einmal in die Arme schließen zu können, nie verloren. Das pflegten Oma und Opa immer wieder zu sagen und in diesen Momenten liebte ich sie dafür jedes Mal mehr als zuvor. Ich ließ die Zeitung in meiner Hand sinken und trocknete mir mit dem Ärmel meines T-Shirts die Augen. Warum hatte nicht einfach alles mit einem Happy End enden können?
Wahrscheinlich gab es nichts, was sich meine Familie damals mehr gewünscht hatte. Doch ausgerechnet das war ihnen verwehrt worden.
Bevor ich weiter über Yasmin nachdenken konnte, hörte ich Oma von unten rufen. Anscheinend war das Essen fertig und ich sollte hinunterkommen.
Schnell legte ich die Zeitungsartikel wieder aufeinander und in die Mappe hinein. Zwar hatte ich noch längst nicht alle gelesen, aber ich wusste schon jetzt, dass ich mich nach dem Mittagessen noch immer zu schwach und traurig fühlen würde. Die Erinnerungen an alles waren schmerzhafter und kräftezehrender als ich gedacht hatte.
Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel und sah, dass meine Augen etwas gerötet waren. Hoffentlich fiel es meinen Großeltern nicht auf und sie fragten nicht danach. Im Moment musste ich meine Gedanken erst einmal richtig verarbeiten.
Langsam stieg ich die Stufen ins Erdgeschoss hinunter, wo es bereits nach Suppe und etwas anderem roch. Mein Magen knurrte leise und ich bereute es erneut, die Gummibärchen hier unten liegen gelassen zu haben.
"Ist Christel gegangen?", fragte ich Oma, als ich mich zu Opa und ihr an den Tisch setzte. An meinem Platz stand schon ein Teller, der bis zum Rand mit Nudelsuppe gefüllt war.
"Ja, vor über einer halben Stunde", erwiderte meine Großmutter.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dort oben in meinem Zimmer gesessen und über Yasmin nachgedacht hatte. Dabei hatte ich die Zeit wohl ganz vergessen und auch nicht gemerkt, dass Christel sich verabschiedet hatte.
Schweigend löffelte ich die Brühe in mich hinein und blendete alles aus, was meine Großeltern miteinander besprachen. In meinem Kopf schwirrten die Ereignisse umher, von denen man damals in der Zeitung berichtet hatte.
In der Oberfläche der Suppe spiegelte sich mein Gesicht, als ich mich nach vorne beugte und den Löffel eintauchen wollte, dann jedoch kurz inne hielt. Für einen Moment sah ich Yasmin in meinen eigenen Zügen.
Schnell schaute ich weg. Dass meine verstorbene Schwester mir so ähnlich sah, sagte man mir zwar oft, aber meistens tat ich es lediglich mit einem Schulterzucken ab.
"...noch Pläne für heute?", riss mich Opa aus den Gedanken.
"Bis jetzt nicht", antwortete ich geistesabwesend und fischte ein paar Nudeln aus der Brühe. Ohne das Fahrrad konnte ich ohnehin kaum etwas unternehmen.
"Christel hat mich gefragt, ob du nicht Lust hättest, später bei ihr vorbeizukommen", meinte Oma.
Verwundert runzelte ich die Stirn. Wollte Christel mir etwa erneut erzählen, wie gefährlich die Suche nach Yasmins Mörder war und mich ermahnen, stets vorsichtig zu sein? Darauf konnte ich gut verzichten und so hob ich lediglich die Schultern. Schließlich war dies weder eine Zustimmung noch eine Ablehnung.
Oma machte den Mund auf, um etwas zu sagen, wurde jedoch von der Klingel unterbrochen.
"Wer besucht uns denn zu dieser Zeit? Da isst schließlich jeder", bemerkte Opa und blickte meine Großmutter und mich abwechselnd an.
"Bestimmt hat Christel wieder ihre Lesebrille vergessen. Das ist ihr letztes Mal auch schon passiert", seufzte diese und stand auf, um zur Tür zu gehen.
Gespannt lauschten Opa und ich ihren Schritten und der Stimme, die erklang, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. Verwundert hob ich die Augenbrauen und beugte mich schnell wieder über mein Essen, obwohl der Teller schon beinahe leer war und nur noch ein paar vereinzelte Nudeln in der Suppe schwammen.
Ich spürte den Blick meines Großvaters auf mir ruhen, doch ich schenkte ihm keine Beachtung. Dafür war ich viel zu beschäftigt, mein Gesicht hinter meinen Haaren zu verbergen. Irgendwie hatte ich noch immer das Gefühl, verweint auszusehen und ich wollte nicht, dass jemand es bemerkt.
"Du kannst dich gerne zu uns setzen", hörte ich Oma sagen und hätte bei ihren Worten am liebsten laut aufgestöhnt. Denn nur einige Augenblicke später betrat Tristan das Zimmer.

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt