Juli 2012

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Es ist Freitag. Ich sitze an Papas PC und schaue mir die alten Folgen von "Die Schulermittler" an. Nebenbei greife ich immer wieder in die Chipstüte. Eigentlich ist draußen total schönes Wetter, meine Freunde haben sich alle zum Schwimmen verabredet, aber ich habe gar keine Lust mitzugehen, was nicht nur daran liegt, dass der Bikini vom letzten Sommerurlaub überall kneift sondern auch daran dass meine Eltern nicht da sind und ich so heimlich den Computer benutzen und ungesundes Zeug essen kann, da meine Eltern das sonst überhaupt nicht gern haben. So vertreibe ich mir also den Nachmittag zuhause.
Ich bin kein Einzelgänger und eigentlich rund um die Uhr unterwegs, aber seit meine Freunde alle auf Facebook sind hat sich einiges verändert. Ich kann oft nicht mitreden wenn es um die Gerüchteküche geht, denn die brodelt bei Facebook ja über. Wenn ich nach der Schule heim gehe, fühle ich mich oft isoliert. Für meine Freunde geht der Spaß zuhause weiter, für mich gibt es Berge an Hausaufgaben mit denen ich mir die Zeit vertreibe und eine Menge an Büchern an denen ich mich kaum satt sehen kann. Auch jetzt liegt schon wieder ein Stapel solcher Bücher auf meinem Schreibtisch, weil Tante Klaudia am Wochende schon wieder ein Dutzend vorbei gebracht hat. Ich freu mich darüber, so kann ich immer für einige Zeit in meiner kleinen Welt untertauchen.

Als ich meine Hand wieder in die Chipstüte stecke, merke ich, dass diese schon leer ist. Nun habe ich zwei Optionen:
1.) ich sprinte ganz schnell zum Supermarkt und kaufe eine neue Tüte oder
2.) ich lasse das Donnerwetter meiner Eltern über mich ergehen, weil ich schon wieder "alles" aufgegessen habe und sowieso schon pummelig genug bin

Da ich aber heute gar keine Lust habe auch nur einen Finger zu rühren, entscheide ich mich für die zweite Variante. Recht haben meine Eltern ja, so schlank und sportlich wie ich mal war, bin ich schon lange nicht mehr. Mit dem Leistungssport habe ich vor kurzem erst aufgehört, weil meine Noten in den Keller gerrutscht sind, was wohl an Zeitmangel lag. Auch den Tanzsport, Tischtennis und Hockey habe ich links liegen lassen. Wenigstens kann man an meinen Noten jetzt nicht mehr rummeckern.
Durch das ständige büffeln und zuhauserumsitzen ist genau das passiert, was meine Eltern und ich haben kommen sehen: die Kilos. Die haben sich langsam und unbemerkt angeschlichen und schon kurze Zeit darauf passten die alten Jeans nicht mehr. Auch begann gerade die Pubertät für mich. Während die anderen Mädels aus meiner Klasse sich über BHs noch keine Gedanken machen musste, ging Mama mit mir in die Stadt, weil sie meinte es sei nun Zeit diese alten Bustiers wegzuschmeißen, da diese schon viel zu klein waren. Die Jungs empfanden es als ziemlich amüsant, an den Trägern zu ziehen und dabei zuzusehen, wie diese auf unsere Schultern zurückschnellten und dort rote Spuren hinterließen. Mir war das alles viel zu viel. Ich wollte nicht das mein Körper sich verändert, ich wollte nicht erwachsen werden. So lief ich einige Zeit mit einem knallroten Kopf und übergroßen Hoodies durch die Schule, damit man auch ja keine Rundungen sehen konnte.

•••

Mama kochte immer frisch. Auch wenn sie den ganzen Tag arbeiten musste. Abends stand sie lange am Herd, egal wie erschöpft sie war. Von Fastfood hält sie bis heute nichts.
Ich glaube, dass es mir deshalb später auch nicht gerade schwer fiel ganz aufs Essen zu verzichten. Im Laufe meiner Essstörung schloss ich immer mehr Lebensmittelgruppen aus meiner Ernährung aus. Viel gab es da aber nicht. Ich hatte Freunde, bei denen gab es jeden Tag Pommes und Fischstäbchen und Spagetthi Bolognese und Eis und Pudding zum Mittagessen. Aber was hätte ich Zuhause wegstreichen sollen? Die Chips? Kein Problem. Aber es musste mehr her. Und da ich keine große Auswahl hatte, entschied ich mich für alles. Denn zu dieser Zeit war selbst nichts unbefriedigend.

Doppelleben- zwischen Essstörung und AlltagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt