August 2012

714 18 1
                                    

Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu, als wir eines Morgens einen überraschenden Anruf erhielten.
Papa und Mama diskutierten darauf lautstarks im Schlafzimmer, das wusste ich, weil ich an der Tür lauschte. Worum es ging wusste ich aber nicht, alles was ich ergattern konnte waren ein paar Wortfetzen und hin und wieder ein Zischen. Ich ging zurück in mein Zimmer und kauerte nervös auf meinem Bett. In so einer Situation hatte ich mich noch nie befunden. Meine Eltern neigten nicht zur Dramatik.
Ich hörte wie im zweiten Stockwerk die Zimmertür meiner Eltern aufsprang und kurz darauf erschien Mama auch schon in meinem Zimmer und pflanzte sich neben mich aufs Bett. Sie strich mir eine Strähne hinters Ohr. Ihre Augen waren leicht gerötet und sie presste die Lippen fest aufeinander, so wie sie es eigentlich immer tat wenn sie wütend war. Aber diesmal war es keine Wut, es war Verzweiflung. Dann sagte sie Oma sei gestorben. Die Situation erschien mir mehr als komisch. Ich kniff die Augen zusammen, ich dachte das wäre ein schlechter Scherz. Als sie nichts weiter sagte, war mir das Entsetzen wohl ins Gesicht geschrieben. Ich drehte mich zur Wand, sodass Mama meine Tränen nicht sehen konnte. Sie kraulte mir eine ganze Weile lang den Rücken, bis sie irgendwann aufstand und mein Zimmer verließ. Diesen Augenblick nutzte ich, um den freien Teil meiner Decke um mich zu schlingen. Obwohl es draußen 28 Grad waren zitterte ich.

Ich blieb den ganzen Tag im Bett. Auch die nächsten Tage verschanzte ich mich in meinem Zimmer, las Bücher und fühlte mich einfach nur ziemlich leer.
Wenn ich mich einsam gefühlt hatte, war Oma oft für mich da gewesen. Die Beziehung zu meinen Eltern gestaltete sich oft als problematisch, sie verstanden mich nicht und ich wollte sie auch nicht verstehen. Aber Oma kannte mich gut. Im Gegensatz zu meinen Eltern wusste sie welche Farben ich liebte, was meine Lieblingsbücher waren und welche Speisen ich am meisten mochte. Sie sagte mir nie, dass ich dick war. Ich hatte eine Menge von ihr gelernt und am liebsten half ich ihr dabei im Spätsommer die Ernten im Garten aufzusammeln. Oma baute Erdbeeren, Erbsen und Kirschtomaten, sowie Kohlrabi und unzählig anderes Gemüse in ihrem Garten an. Die schmalen, erdigen Wege waren von exotischen, kunterbunten Blumen umwurzelt. Man konnte meinen, dass man eine andere Welt betrat, sobald man die Gartentür hinter sich schloss. Ich liebte diesen Ort. Es war mein Zuhause.

Nun war ich allein. Diese Feststellung raubte mir auch das letzte Glitzern aus den Augen. Ich hatte keinen Hunger mehr, schlief nicht gut.

Die Schule begann. Meine Lehrer wussten von dem Tod meiner Oma, obwohl niemand auch nur ein Wort erwähnt hatte. Ich wurde nach dem Unterricht darbehalten. Die Lehrer redeten auf mich ein, beäugten mich mit mitleidenden Blicken.
Zum Glück normalisierte sich alles wieder schneller als gedacht.
Doch Mama ging es sehr schlecht. Meine Eltern stritten sich häufiger, schufteten härter. Ich sah sie kaum noch.

                                 •••

Ein paar Wochen vor Halloween beschloss meine Mutter eine Halloweenfeier zu veranstalten. Ich hatte mich natürlich sofort bereit erklärt für ein paar schaurig, leckere Speisen zu sorgen, dazu zählten grüner Wackelpudding mit Gummischlangen, -spinnen und auch Trockenkuchen und weitere Fingerfoods. So besorgte ich nach der Schule schoneinmal die ein oder andere Zutat, da Mama schon wieder viel zu spät von der Arbeit kommen würde.

Zuhause angekommen räumte ich das ganze süße Zeug direkt in den kleinen Schrank über dem Kühlschrank ein. Anschließend kochte ich Wasser auf, gab eine Prise Salz hinein und warf ein paar Spagetthi hinterher. Der Tisch war voller Müslischalen, Kaffetassen und Werbekataloge, die ich erstmal in die Spülmaschine einräumte, die Kataloge kamen direkt zum Altpapier. Ich deckte den Tisch nicht, ich würde ja sowieso alleine essen. Ich schnappte mir einen Teller, lud eine große Portion Nudeln drauf und machte es mir nebenan im Wohnzimmer vorm Fernsehr bequem. Es lief mal wieder nichts spannendes und nachdem ich einmal durch alle Kanäle gezappt hatte, blieb es bei der Wiederholung irgendeines Deutschen Dramas. Ich lauschte sowieso nicht. Mein Kopf wanderte immer wieder zu den leckeren Gummischnüren und Schokotalern und dem ganzen Zeug, das ich gerade gekauft hatte. Meine Eltern würde doch nicht bemerken, wenn ich hier und da etwas heraus nahm, oder? Nein. Ich würde es nicht tun. Ich brauche diese Anzahl an Gummizeugs und co für die Rezepte. Andererseits könnte ich danach ja direkt neue kaufen, dann würde niemandem etwas auffallen und die leeren Verpackungen könnte ich auf dem Weg zum Supermarkt entsorgen um alle Indizien, die auf meine Tat hinwiesen zu verdecken.

Die Runde Plastikdose, die vor fünf Minuten noch bis zum Platzen voll mit Gummischnecken gewesen war, war nun bis auf die letzte Schnüre leer. In meinem Bauch gluckerte es bedrohlich. Mir war schlecht. Bei dem Gedanken, jetzt nochmal raus zu müssen verdrehte ich die Augen. Nichtsdestrotz schlüpfte ich in meine Sneakers und steckte mir den Schlüsselbund in die enge Hosentasche. Ich warf einen letzten Blick in den großen Spiegel, der im Flur hing und beäugte mich von der Seite. Der Bauch wölbte sich sichtlich nach außen, in diesem Moment sah ich zum allerersten Mal, wie dick ich tatsächlich war. So sahen mich also meine Eltern, Freunde und Bekannten. Toll.

Am selben Abend hockte ich noch lange an meinen Schulaufgaben. Mein Spiegelbild hatte mich nachdenklich gestimmt. Vielleicht würde es mir gut tun eine Weile auf den ganzen Süßkram zu verzichten, den ich sonst so gerne aß. Etwas anderes viel mir nicht ein und auch wenn ich Sport eigentlich sehr liebte, fühlte ich mich viel zu träge, mal ganz davon abgesehen das die Temperaturen in den letzten Tagen ein neues Hoch erreicht hatten. Selbst der Gedanke an Sport brachte mich schon ins Schwitzen. Der Verzicht auf Süßigkeiten müsste also erstmal reichen.

•••

In meinem Bauch gluckerte es schon wieder. Vor mir häufte sich ein Haufen an leeren Schokoriegelverpackungen. Ich hatte schon wieder die Kontrolle verloren. Mir war so übel, dass ich mir schwor nie wieder auch nur einen Bissen zu essen, aber ich wusste, dass ich in spätestens zwei Stunden wahrscheinlich dasselbe denken würde, nachdem ich mir weiß-Gott-was reingezwängt hatte.

Die Tage vergingen. Dass ich Anfangs so gut auf Süßkram hatte verzichten können, resultierte in regelrechten Fressanfällen und fünf neuen Kilos auf meinen Hüften. Ich verabscheute mich, war mir selber peinlich für das schlechte Durchhaltevermögen und die Disziplin, die nicht vorhanden war.
Mit jedem Tag der verstrich nahm ich zu. Die Jeans passten bald gar nicht mehr, die Pullis wollten nicht so recht über meinen Bauch. Meine Eltern ließen öfters verletzende Kommentare ab, ich reagierte meist zickig, aber danach verzog ich mich oft auf mein Zimmer und kuschelte mich in meine Decke ein, damit niemand sah wie ich weinte. Alles wurde immer schlimmer.

Doppelleben- zwischen Essstörung und AlltagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt