Selbstversuch

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  Mina schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Das lag nicht an ihrem Vater, der wieder lange die Platte vom Freischütz hörte. Das war sie gewohnt, schließlich tat er das an jedem Freitagabend und auch nicht so laut, dass es stören würde.
Vielmehr schob sie es auf den Vollmond, der direkt durch ihr Fenster schien und ein schiefes Rechteck aus Licht auf die Wand über ihrem Bett warf. Längst war sie kein Kind mehr, die Angst vor Geistern war ihr vor Jahren abhanden gekommen, doch mit diesem bleichen Licht im Raum fühlte sie sich immer wieder unwohl. Es half nichts, sich hin und her zu wälzen, vielleicht sollte sie sich aber ein Glas Wasser aus der Küche holen.

Kaum, dass sie sich aus ihren beiden Bettdecken geschält hatte, nahm die Kälte der Novembernacht sie gefangen. Am liebsten wäre sie sofort wieder ins Bett gekrabbelt, doch die Aussicht auf weitere unruhige Stunden war wenig verlockend.
Auf Licht verzichtete sie, es würde ihr nur in den Augen brennen. Ihr Vater würde etwas bemerken und fragen, ob alles in Ordnung war. Das war es, also konnte sie ihm und sich diese Frage sparen. Leise ging sie durch ihr Zimmer und war froh, dass sie heute aufgeräumt hatte, zuvor waren Bücherstapel und Zeitschriften überall verteilt gewesen, es wäre unangenehm geworden.

Im Zimmer war Teppich ausgelegt, im Flur allerdings Steinfliesen, weswegen sie leise quiekte, als es auch noch zu ihren Fußsohlen eisig wurde. Sie beeilte sich, auf den Läufer zu kommen, der zusätzlich ihre Schritte dämpfen würde. Davon, dass ihr Vater bei seiner lauten Musik so oder so nichts mitbekam, war allerdings auszugehen. Dennoch schlich sich extra leise und langsam an der Wohnzimmertür vorbei, unter der ein schmaler Streifen Licht auf den Flur fiel. Ein bisschen fühlte es sich an, als täte sie etwas Verbotenes, was völliger Quatsch war. Schließlich war sie siebzehn und es war eine Freitagnacht. Sie schob den Gedanken und den, dass es sich dadurch anfühlte wie ein kleines Abenteuer, auf die nagende Müdigkeit, die sie immer die seltsamsten Dinge denken ließ.

Der Küchenboden war nicht wesentlich wärmer als der im Flur und sie trat von einem Fuß auf den anderen, während sie sich ein Glas aus dem Schrank nahm. Für einen Moment kam ihr der Gedanke an einen Tee verlockend vor, doch so lang wollte sie nicht außerhalb des warmen Betts bleiben, davon abgesehen, dass sie dadurch wohl eher wacher würde als müder.
Deshalb setzte sie sich nur mit Wasser an den Tisch und war froh, wieder Teppich unter den Füßen zu haben. Genüsslich vergrub sie ihre Zehen darin.

Die Musik aus dem Wohnzimmer verstummte und Mina hörte die Schritte ihres Vaters durch den Raum, über den Flur, ins Bad. Aus irgendeinem Grund verursachte ihr das Herzklopfen, sie bewegte sich nicht und atmete leiser. Er würde sie albern finden, würde er sie finden, und das war ihr Grund genug, nicht gefunden werden zu wollen.
Erst, als seine Schritte erneut ertönten, vom Bad ins Schlafzimmer, und verklungen waren, saß sie wieder bequem und trank das Glas aus. Ihr war unbehaglich zumute in der kalten Küche, still bis auf das Ticken der Funkuhr an der Wand und dunkel bis auf den blassen Schein der verschiedenen Digitaluhren um sie herum. Eine zeigte die Ortszeit, eine die Zeit in Neuseeland, wo ihr großer Bruder gerade ein Auslandsjahr verbrachte, und eine die Zeit in Finnland, wo Minas Tante wohnte.
Sie leerte das Glas, stellte es in die Spülmaschine und stellte fest, dass es zumindest ein bisschen geholfen hatte. Nachdem die Kälte ihr bis unter den Pyjama gekrochen war, freute sie sich auf ihr warmes Bett und das weiche Kissen.

Unsicherer als zuvor, weil die Müdigkeit immer mehr Besitz von ihr nahm, tapste sie durch den Flur zurück zu ihrem Zimmer. In der Dunkelheit stieß sie mit der Hüfte gegen den Flurschrank, auf dem das Telefon stand.
Sie blieb stehen, den weichen Läufer unter den Füßen. Da hing ein Spiegel über dem Schrank. Wahrscheinlich war es das durch die späte Stunde lahme Hirn, das sie dazu verleitete, sich der Stelle zuzuwenden, an der sie den Spiegel vermutete.
Da sie den Flur gut genug kannte, spürte sie tatsächlich das kalte Spiegelglas unter den Fingern, als sie die Hand ausstreckte. In diesem Moment beschloss sie, es zu versuchen. Es beschäftigte sie seit dem Unterricht, seit diesem letzten Satz vor dem Klingelzeichen.
Normalerweise hätte sie es als eine weitere Geschichte abgetan, wie es alle gewesen waren, die ihre Klassenkameraden erzählt haben, nur Geschichten. Doch sein Ton, als er von dieser einen gesprochen hatte, war ihr so anders vorgekommen.
Zu einem großen Teil war es allerdings wohl auch die Müdigkeit, die sie dazu bewog, den Arm sinken zu lassen und in den finsteren Spiegel zu blicken. Spätestens morgen würde sie sich dafür dämlich vorkommen.

Spätestens, denn in Wahrheit fand sie sich schon selbst albern, als sie tatsächlich allein im stockdunklen Flur stand und „Eneco" flüsterte, so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie es nicht doch nur gedacht hatte.
Nichts geschah.
Sie wusste nicht, wie genau es sich äußern sollte, ein Gesicht? Eine Stimme? Doch es deutete wirklich nichts darauf hin, dass es eine Veränderung gab.
Ein wenig war sie enttäuscht, doch ihr nächster Gedanke war, dass das gut war. Es war das Beste, was passieren konnte. Ganz gleich, ob an der Geschichte etwas dran war, sie würde es nie erfahren und das erleichterte sie. Denn sie meinte es nicht so.  

Der Sensenmann im SpiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt