Verschwommen zieht die Landschaft an uns vorrüber, ein Strudel aus Farben. Als ich mich umdrehe, sehe ich meinen kleinen Bruder Henry auf dem Rücksitz. Und natürlich ist er wieder am Handy. Er ist etwas kleiner als ich, 11 Jahre alt und hat ein schmales Gesicht, das von blonden Locken eingerahmt wird und aus dem ebenso moosgrüne Augen herausstrahlen wie aus meinem. Sehr ähnlich sehen wir uns eigentlich nicht. Neben mir versucht meine Mutter mit mir ein Gespräch anzufangen, doch da ich immer nur Antworten wie 'ja' , 'nein' oder 'keine Ahnung' äußere, gibt sie bald die Hoffnung auf. Sie weiß, dass ich immer noch sauer bin, dass sie uns mit dem Umzug so überfallen hat, deswegen versucht sie es so gut wie möglich wieder wett zu machen. Da ich keine Lust auf noch mehr Unterhaltungen habe, krame ich meine Kopfhörer und den I-Pod aus dem Rucksack hervor, stöpsle sie mir rein und lausche der Musik von allen möglichen Bands und Sängern, die im Moment all meine Gedanken beherrschen.
Als ich den Kies unter den Reifen knirschen höre, schaue ich auf und erblicke eine Eichenallee, die uns den Weg zu einem kleinem, etwas verwildertem Häuschen weist. Zuerst passieren wir einen verrosteten Briefkasten, der- wie es scheint- aus dem letzten Jahrhundert stammt. Schließlich hält meine Mutter vor dem Haus. "Ja, gut, ich gebe zu, dass man mal etwas im Garten machen soll, aber sonst ist es doch sehr...gemütlich hier, oder nicht?!", präsentiert unsere Mutter, Henry und mir unser neues Zuhause. Sie sucht hoffnungsvoll in unseren Gesichtern Zustimmung. Mein Bruder stürtzt sofort aus dem Wagen kaum das wir halten, während ich eher langsam aussteige. Wow, wenn man ehrlich ist, sieht das Gebäude gar nicht so übel aus, ja, es wirkt sogar recht gemütlich. Efeu umschließt das Haus wie einen schützenden Mantel. Auch der Garten, der sehr in den letzten Jahren vernachlässigt wurde, sieht auf den zweiten Blick mit den vielen verschiedenen Blumenarten wie Geranien, Sonnenblumen und Storchenschnabel. Das Haus bot auch einen netten Anblick, der weiße Putz brökelt zwar an ein paar Stellen ab, doch hat er sich in den letzten Jahren gut gehalten. Was dem Gebäude einen Anblick von Himat verleiht ist die strahlende Sonne, die alles in ein warmes, einladendes Licht taucht. Dadurch wird auch der kleine, schmale Bach sichtbar, der an der Westseite des Hauses vorbeiläuft. "Mom, es ist echt cool!", rufen Henry, der mittlerweile von seiner Erkundungstour zurück gekommen ist, und ich im Chor, Wir grinsen uns an. Als ich zu meiner Mutter schaue, bemerke ich den glücklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht, welchen sie schon ewig nicht mehr gezeigt hat.
Kühl bläst die kalte Nachtluft durch mein weit geöffnetes Zimmerfenster hinein. Als ich in den kristallklaren Sternenhimmel blicke, fühle ich mich zum ersten Mal seit Jahren wieder wohl. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass mein Zimmer gar nicht übel ist. Mein Fenster gibt den Blick auf das Dorf frei, in dem ich nun meine nächsten Lebensjahre verbringen muss. Aber insgesamt besteht mein Raum im Moment nur aus Umzugskartonburgen. Das Gute an diesem Ort ist, dass ich mir eine neue Identität aufbauen kann. Ich habe eine zweite Chance verdient. Zum Glück schaltet mein Hirn jetzt komplett ab und das Einzige was ich noch schaffe, ist mich auf meinem riesengroßen Himmelbett zusammenzurollen, bevor ich schon in einen tiefen, traumlosen Schlaf stürze.
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No Memory
FantasyLucy, ein 15-jähriges Mädchen, zieht in ein Gebiet in der Nähe von London um. Dort lernt sie auch den etwas schrägen und unheimlichen Antiquitätenhändler, Antony Raven, kennen. Mit der Zeit findet sie neue Freunde, und schafft es sich zurecht zu fin...