Jeden Sommer war da dieses Mädchen. Es nahm immer denselben Zug in das immer selbe Fischerdorf. Jeden Sommer.
Nie hatte sie mehr als eine alte Reisetasche dabei, in der eigentlich für nichts wirklich Platz war. Sie schwieg, redete mit keinem der Passagiere, egal wie freundlich sie ihr zulächelten. Sie freute sich als einzige in ihrer Jahrgangstufe nie auf die großen Ferien. Es war auch leicht sich nicht zu freuen wenn man jedes Jahr, kurz bevor die Temperaturen angenehm wurden, in ein kleines Fischerdorf, irgendwo in Kanada, abgeschoben wurde, um dort Zeit mit einem alten Spinner zu verbringen, der vermutlich regelmäßig vergaß, dass er überhaupt eine Enkelin hatte.
Das Fischerdorf war ausgestorben. Das Straßenschild war bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt und vermutlich sparte die Gemeinde immer noch um es irgendwann zu ersetzen, oder die allgemein im Dorf umgehende Demenz, hatte es die Bewohner der Holzhütten bereits vergessen lassen. Annie konnte sich nicht recht zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden. Es war das große Rätsel was es jedes Mal zu lösen gab wenn sie zurück nach Clifford Creek kam.
„Hallo Mädchen"
„Hallo Inga"
Die alte Inga begrüßte sie jedes Jahr mit diesem einfachen „Hallo Mädchen". Annie zweifelte daran, dass sie überhaupt wusste wie sie hieß. Seufzend setzte sie ihren Weg durch das trostlose Dorf fort um an der Tür des wohl trostlosesten Hauses zu klopfen. Aber keiner öffnete. Das Mädchen klopfte nochmal. Die Tür blieb verschlossen.
Es wäre nicht das erste Mal gewesen dass der alte Mann ihre Ankunft vergessen hatte, doch dieses Jahr war es anders. Sie ließ sich auf die Stufen vor dem Haus sinken und wartete. Nichts geschah. Es dauerte Stunden bis der verschrobene Will, der ein paar Häuser weiter wohnte, seine Axt beiseitelegte und sich auf den Weg machte, dem Mädchen die Wahrheit zu sagen.
Sie weinte nicht. Wieso auch? Der Mann der in diesem Haus gelebt hat war einzig und allein mit ihr verwandt. Mehr hatte sie nie mit ihm verbunden. Das dachte sie. Trotzdem dauerte es einige Minuten bis sie sich soweit gewappnet hatte dass sie ihre Tasche aufhob und den Schlüssel in der Regenrinne benutzte um die knarrende Holztür zu öffnen und das alte Haus zu betreten. Nichts war anders als im Jahr davor. Gerade einmal die Anzahl der Holzscheite neben dem Kamin war nicht mehr die Selbe.
An der Wand hing die hässliche antike Kuckucksuhr und in der Ecke standen der Tisch, eine Holzbank und ein Stuhl – die Annie glauben ließen, dass noch immer alles war, wie ein Jahr zuvor. Zumindest in einem kleinen Teil ihres Körpers verspürte sie eine aufziehende Trauer. Vielleicht auch nur weil sie ihre Ferien komplett alleine, hier in der Ödnis, verbringen musste, immerhin so lange bis ihre Eltern ihre jährliche Entspannungsreise für beendet erklärten. Natürlich hätte sie auch zurückfahren können und ihren Sommer mit der verrückten Trudy verbringen können, die zu dieser Zeit das „Haussitten" übernahm, doch dieser Verrückten zog Annie die Einsamkeit eindeutig vor.
Es dauerte seine Zeit bis sie das Gefühl beschreiben konnte dass sich seit dem Betreten des Hauses in ihr breit gemacht hatte. Irgendwie fühlte sie sich gefangen, nicht in dem Haus, oder dem Fischerdorf, sondern in der Erinnerung an den Alten. Sie musste ständig daran denken wie er da saß, die Arme auf die Tischkante gelehnt und sie ansah. Er hatte sie oft Stundenlang nur angesehen, während sie las oder versuchte mit dem kläglichem Handyempfang für einige Minuten Kontakt zur Außenwelt zu bekommen. Danach war er meist gegangen, in den Wald, oder seine Hütte, oder sonst wohin, sie hatte nie gefragt.
Der Kühlschrank war leer. Sie hätte zum örtlichen Dorfladen gehen können, doch sie beschloss die Wärme und den Hunger, der Kälte draußen und einem vollen Magen vorzuziehen. Annie lag im Obergeschoss und starrte die Holzdecke an, als sie es an der Türe klopfen hörte, nur ganz schwach, aber deutlich genug. Für einige Sekunden überlegte sie ob sie es einfach ignorieren sollte, aber dann beschloss sie sich doch aus dem Bett zu quälen. Sie wollte es sich ja nicht von Anfang an mit den Dorfbewohnern verscherzen. Als ihr die Idee kam, dass sie sich auch hätte schlafen stellen können, hatte sie die Türklinke bereits nach unten gedrückt und musste ein instinktives Fluchen unterdrücken.
DU LIEST GERADE
Kurzgeschichten
Historia CortaHier sammle ich meine Kurzgeschichten, wie kleine geheime Orte. copyright by @just_sally