Kapitel 33

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Elsa konnte es noch immer nicht glauben. Sie stand wirklich in ihrem alten Zimmer, erblickte all die Möbel, Bilder und Gegenstände, die schon vor fünf Jahren hier standen. Nichts hatte sich in all der Zeit verändert, doch was die junge Frau noch mehr verblüffte, war ihre Fähigkeit, sich allein durch ihre Gedanken an andere Orte zu bringen. Nie zuvor hatte sie ähnliche Kräfte bei sich bemerkt...
Erneut schaute sich Elsa um. Alles war noch da, selbst das Bild ihres Vaters hing noch über ihrer Kommode. Sie hatte das Gefühl, nie weg gewesen zu sein. Feinsäuberlich hingen ihre Kleider im Schrank, als würde sie noch hier leben.
Die junge Königin wandelte umher, bis sie schließlich vor dem großen Fenster stehen blieb. Es weckte so viele Erinnerungen in ihr... Hier hatte sie oft als Kind gestanden, die Menschen außerhalb der Tore beobachtet und sich gewünscht wie alle anderen zu sein. Einfach nur ein normales Mädchen. Ohne Eiskräfte, ohne Alpträume, ohne Angst.
Nun stand sie wieder hier und erblickte das bunte Treiben vor den Schlosstoren, doch diesmal waren sie offen. Lachend wandelten sie ein und aus, redeten miteinander und gingen ihren Aufgaben nach. Niemand von ihnen ahnte, dass die verschollene Königin ein Auge auf sie warf, nicht einmal ihre Schwester nebenan.
Schweigend wandte sich die schöne Frau von dem Fenster ab und musterte sehnsuchtsvoll das Portrait ihres Vaters.
"Ach Vater...", seufzte sie leise.
So lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Was er wohl von der jetzigen Situation halten würde?
"Es tut mir leid. Ich habe dein geliebtes Arendelle im Stich gelassen und Anna auch. Ich weiß seit fast fünf Jahren nicht einmal, wie es ihr geht... Ich fühle mich so schlecht."
Elsa senkte ihren Kopf.
"Aber was hätte ich tun sollen? Die Hüter... Sie haben mir gezeigt, wie wichtig ich für sie bin, warum ich diese Kräfte habe. Es geht nicht mehr nur um Arendelle, Vater. Alle Kinder dieser Welt und auch die Erwachsenen sind in Gefahr. Bale bedroht sie und ich habe die Aufgabe, ihn aufzuhalten. Dafür ist das Eis in mir, verstehst du? Doch ich kann das nicht...", gestand sich die Hüterin ein.
Kleine, kalte Tränen rollten ihre Wangen hinunter. Sie hatte alles verloren...
Mit zitternder Stimme begann Elsa erneut zu reden: "Bale... Er war mein bester Freund. Du würdest mich sicher fragen, wie ich mich nur mit ihm anfreunden konnte, wie ich mich nur dem Feind zuwenden konnte, dem, der alle Menschen der Welt bedroht... Als ihr nicht mehr zurückgekommen seid, war ich ganz allein. Mit Anna konnte ich nicht reden, sie hätte es nie verstanden. Ihr ward die Einzigen, die mich verstehen wollten, auch wenn ihr es nicht immer konntet. Ihr seid gestorben und zurück blieb nur meine Angst, Anna noch einmal zu verletzen... Niemand konnte mich aufmuntern, ich versank beinahe in der Dunkelheit, doch Bale rettete mich. Er war der Erste, dem ich begegnete, der auch übermenschliche Fähigkeiten hatte. Bei ihm wusste ich, dass er nicht zurückschrecken würde, wenn ich mein Eis zeigte. Er hörte mir zu, tröstete mich, ermutigte mich weiterzumachen. Seinen Namen kannte ich nicht und ich wusste auch nicht, wer er ist. Es tut mir leid. Ich... I-Ich..."
Ihre Stimme brach ab. Nur ein leises Schluchzen entfuhr ihrem Mund. Wieder spürte sie diesen stechenden Schmerz un sich, der sich um ihr Herz legte und ihre Kehle zudrückte, sodass sie schwer schlucken musste.
Bevor sie weitere Tränen verlieren konnte, wandte sie sich von dem großen Gemälde ab. Elsas Blick war leicht verschwommen und doch nahm sie alles um sich herum so klar wahr, wie noch nie.
Mit vor Anspannung zitternden Händen ging die Eiskönigin immer weiter weg, bis sie, den Rücken dem Bild ihres Vaters zugewandt, wieder aus dem Fenster schaute. Noch immer wuselten die Menschen auf dem Hof umher. Mit der Zeit wurden es mehr und mehr. Zuerst waren es nur einige gewesen, die in der halben Dunkelheit umherliefen, doch nun füllten sich die Straßen allmählich mit Leben. Die Stadt am Fjord erwachte und mit ihr die Menschen. So würde auch bald Anna den Weg aus dem Traumland in die Realität finden... Die junge Hüterin musste bald fort, doch noch war kein Leben auf den Gängen zu hören.
Erneut wandelte sie durch ihr ehemaliges Zimmer. Die Tränen und den Schmerz hatte sie erfolgreich verdrängt, zumindest für den Moment. Mit den Fingerspitzen strich Elsa sacht über die perfekt zusammengelegte Decke auf dem Königlichen Bett. Sie war so weich, wie die Frau sie in Erinnerung hatte. Als Kind hatte sie sie so geliebt, dass ihre Eltern ihr das weiche Stück Stoff geschenkt hatten, obwohl es eigentlich ihre Decke gewesen war. Sie hatten sich daraufhin wohl eine neue beschaffen müssen.
Ein leichtes Schmunzeln huschte über ihre Lippen. Sie war der Begleiter der Hellhaarigen gewesen, als Anna es nicht mehr sein konnte...
Für einen Moment spielte sie sogar mit dem Gedanken, die Bettdecke mitzunehmen, auch wenn sie noch nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Mit dem Gedanken an die vorbeiziehende Zeit ließ die junge Königin ihren Blick über den restlichen Raum schweifen. Der Schreibtisch, an dem sie soviele Stunden des Grübelns verbracht hatte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Doch bevor sie sich zu dem edel beschnitzten Holz hinüberschritt, schloss sie noch schnell die Türen ihres Schrankes, in dem all ihre Kleider hingen. So konnte die Eiskönigin sichergehen, dass sie dadurch nicht auf ihre Anwesenheit aufmerksam machte.
Während sich die schöne Hüterin dem Arbeitstisch näherte, ließ sie ihren Blick schon über die Glatte Oberfläche gleiten. Er war aufgeräumt wie immer. Kein Staubkörnchen lag darauf und auch die vielen Papierrollen, Erlasse und Formulare waren verschwunden. Zu ihrer Zeit an diesem Tisch hatten hier viele Papiere gelegen, geordnet zwar, aber der Tisch war bedeckt von ihnen. Nun war das anders. Es war zu erwarten, dass dieser Tisch nach beinahe fünf Jahren der Abwesenheit der Königin überquoll von Papieren, doch dem war nicht so. Ein gutes Zeichen, wie sie fand. Ein Zeichen dafür, dass sich jemand um die Verwaltung Arendelles kümmerte. Jetzt lag beinahe nichts darauf, nur ein Tintenfass mit Schreibfeder, ein Stapel leerer Papierblätter, eine Blume und einige Briefe.
Neugierig trat Elsa noch näher heran. Was hatte das zu bedeuten? Warum lagen diese Briefe hier? So wie alles in diesem Zimmer war auch der Schreibtisch sauber, aber offensichtlich nicht mehr in Gebrauch. Er diente wohl einzig und allein zum Schreiben dieser Briefe...
Die Eiskönigin hob die zarte Blume auf. Ein Schneeglöckchen, ihre Lieblingblume. Behutsam legte sie die Pflanze beiseite und ergriff die hellen Umschläge. Als die junge Hüterin las, an wen all die Briefe geschrieben waren, zuckte sie innerlich zusammen.
Für Elsa., stand auf allen, ergänzt mit dem jeweiligen Datum. Viele, es waren so viele... Der oberste wurde erst vor sechs Tagen geschrieben. Sechs Tage... Was für eine kurze und gleichzeitig so lange Zeit. Alles hatte sich für Elsa in den letzten Tagen geändert, erneut...
Mit neuen Tränen, leidvollen Tränen in den Augen las sie jedes einzelne Datum, bis sie in der Zeit angekommen war, in der sie Arendelle für immer verlassen und den größten Fehler ihres erbärmlichen Lebens begangen hatte. Kraftlos ließ sie sich auf den Stuhl hinter dem hölzernen Schreibtisch fallen, legte die Briefe wieder ab und öffnete den Ersten davon. Sie wollte wissen, was in ihrer kleinen Schwester vorging, wie sie sich fühlte, was sie dachte und wie es ihr ging. Vielleicht würde sie hier einige Antworten finden...
Die junge Hüterin entfaltete den ersten Brief und begann zu lesen:
Wo bist du, Elsa?
Nur diese vier Worte standen darin, doch sie sagten so viel aus. Unglaublich viel Verzweiflung lag in ihnen, soviel Traurigkeit... Sie spiegelten ihre eigene Seele wider.
Die junge Frau kämpfte mit den Tränen. Es tat ihr so unendlich leid, ihre kleine Schwester damals alleingelassen zu haben, doch was hätte sie anderes tun können? Wie hätte sie damals ahnen können, dass die Zeit bei den Hütern so unerträglich sein würde?
Noch bevor sich die Königin weiter in diese Gedanken vertiefen konnte, öffnete sie wie in Trance den nächsten Brief. Auch in diesem waren nur einige Zeilen niedergeschrieben.
Warum hast du mir nicht gesagt, dass du gehst? Warum hast du uns verlassen? Ich dachte, wir hätten endlich mit der Vergangenheit abgeschlossen.
Ja, das hatte die schöne Frau vor einigen Jahren auch gedacht. Sie hatte sich so glücklich und befreit gefühlt, doch das war schon einige Wochen später erneuter Melancholie und neuem Schmerz gewichen...
Schnell las die Eiskönigin weiter. In den darauffolgenden Schriften erfuhr Elsa von guten und schlechten Tagen, schönen und traurigen Ereignissen und davon, wie sich das Unverständnis und der Groll, den die Hüterin aus den Briefen herausgelesen hatte, allmählich schwand. Dafür wurden Traurigkeit und Verzweiflung immer intensiver, da Anna nun wusste, dass sie ihre Schwester wohl nie wiedersehen würde.
Auch Elsa ging es mit jeder gelesenen Zeile schlechter. Tief in ihrem Inneren verspürte sie einen Stich, den sie zuletzt vor mehr als vier Jahren empfunden hatte. Damals, als Prinz Hans ihr von dem Tod ihrer Schwester berichtet hatte, damals hatte sie sich genau so gefühlt. Ja, Elsa verspürte eine Distanz zwischen sich und ihrer Familie, die sich nicht so einfach überwinden ließ. Sie lebten nun in zwei verschiedenen Welten, Anna und sie.
Schwer atmete die hellhaarige Hüterin auf und griff nach dem nächsten Brief. Bevor sie die Zeilen überflog, bemerkte die Königin, dass dieser in größerem Umfang geschrieben war, als alle anderen zuvor.
Noch einmal atmete Elsa tief ein, dann begann sie zu lesen:
Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich mit Vaters Gemälde spreche, ihn frage, was ich noch hier soll und es stundenlang ansehe. Das ist genauso unsinnig, wie diese Briefe... Aber ich tue es trotzdem. Auch deinen Eispalast habe ich schon besucht. Noch immer kann ich die Spuren der Wachen dort sehen. Und deine. Wenn ich dort bin, glaube ich, dich um mich zu haben. Dort fühle ich mich dir nahe, auch wenn der Palast schon lange verlassen ist. Das blau schimmernde Eis raubt mir noch immer den Atem. Es ist so kalt, doch wunderschön.
Ich bewundere dich, Elsa. Mit einem Gedanken, einer Handbewegung kannst du unbeschreibliche Schönheit erschaffen. Ich hoffe, du weißt, wie einzigartig und wundervoll diese Gabe ist.
Ihr Atem setzte für einen Augenblick aus. Annas Liebe für sie war noch immer ungebrochen, das wusste sie nun und das rührte sie zutiefst. Elsa hatte gedacht, dass sie ihre kleine Schwester durch das Verlassen von Arendelle endgültig verloren hatte, doch dem schien nicht so zu sein. Diese Erkenntnis machte die junge Königin glücklich und traurig zugleich. Sie hatte Anna nicht verloren, doch sie wiedersehen und ihre ausgelassene Art erleben würde die Königin auch nicht. Sie musste einige Tränen unterdrücken. Hier durfte sie sich nicht in ihrer Melancholie verlieren. Jeden Moment konnte Anna aufwachen, jeden Augenblick könnte sie in dieses Zimmer treten und ihren Augen kaum glauben... Je länger Elsa hier blieb, desto wahrscheinlicher war ein Zusammentreffen mit einem Menschen ihres Königreichs und das musste sie verhindern. Die junge Hüterin musste sich beeilen, schließlich war die Sonne schon aufgegangen.
Etwas schneller überflog sie die nächsten Briefe. Anna berichtete von ihrem Alltag, von Kristoff und ihren Gefühlen. Bei der Nachricht über ihre Hochzeit musste die Eiskönigin kurz schmunzeln. Sie freute sich für ihre kleine Schwester und doch wäre sie unglaublich gern dabei gewesen. Wieder hatte sie einen wichtigen Teil ihres eigentlichen Lebens verpasst...
Und dann war da noch ein Brief. Es war der letzte des Stapels. Nach diesen Zeilen würde Elsa nichts mehr aus ihrem Leben mitbekommen.
Die Königin zögerte. Sie wollte nicht, dass dieser spärliche Kontakt abbrach, wollte den hauchdünnen Faden, der sie und ihre kleine Schwester noch verband, nicht zertrennen, doch was Anna ihr zu sagen hatte, wollte sie trotz alledem erfahren.
Elsa blickte auf das Datum. Beinahe eine Woche war das Schriftstück nun alt. Was wohl darin stand? Warum schrieb sie ihrer verschwundenen Schwester überhaupt noch, wenn sie doch keine Antwort bekam? Die junge Frau war neugierig auf den Inhalt, übermittelt durch eine fein säuberlich niedergeschriebene, schnörklige Schrift.
Ihre Hände zitterten. Sie würde die Verbindung brechen, das hauchdünne Band zerreißen. Mit jedem Handgriff den sie tat, um den Brief lesen zu können, spürte Elsa die Einsamkeit intensiver werden. Die Eiskönigin realisierte erneut, dass sie niemanden mehr hatte, bei dem sie sich anlehnen konnte, in dessen Arme sie sich flüchten konnte. Niemand war mehr für sie da.
Die Frau mit den hellen Haaren überflog schließlich die Zeilen. Was dort stand, ließ ihren Atem stocken. Wieder und wieder las sie die wenigen Zeilen. Sie konnte nicht glauben, was dort stand. Anna, ihre kleine Schwester bekam ein Kind. Sie würde Tante werden...
Die schöne Hüterin konnte es nicht fassen. Ungläubig starrte sie auf das Papier in ihren Händen, bis die ersten Tränen ihre Wangen hinunterrollten, Tränen der Freude. Anna war glücklich und gründete nun eine Familie. Sie war so stolz auf ihre kleine Schwester, doch der letzte Satz, die letzten Worte brachten alles in ihr zum Stillstand und erweckten erneut den Schmerz in ihr.
Ich wünschte, du könntest es aufwachsen sehen...
Wieder und wieder hallten sie durch Elsas Kopf, durchzogen ihren Geist und wandelten ihre Freudentränen in Tränen der Erinnerung. Fast ihr ganzes Leben hatte sich Elsa isoliert und Anna dabei ausgeschlossen. Sie hatte das unbeschwerte, rothaarige Mädchen weggestoßen und floh vor ihr. Wann würde all dies endlich ein Ende nehmen? Wie gern würde die Eiskönigin mit ihr, Kristoff und dem Kleinen leben, doch sie wollte ihre Familie nicht in Gefahr bringen. Der, den sie einst Freund nannte, war in ihren Augen unberechenbar geworden und Elsa wusste nicht, wie weit er gehen würde, um die Hüter zu brechen. Die junge Königin musste bald weg von hier. Bale durfte sie nicht finden. Doch sie wollte Anna nicht einfach ohne ein Wort zurücklassen. Sie hatte ihre Schwester nie vergessen, liebte sie noch und genau das sollte die Rothaarige auch von ihr denken. Elsa wollte ihr schreiben, wollte ihr ein letztes Mal danken bevor sie ging.
Die Eiskönigin nahm sich ein leeres Stück Papier von dem da befindlichen Stapel, umfasste die dünne Feder mit ihren Fingern und setzte zum Schreiben an.

Die verlorene HüterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt