16. Wiedersehen

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Das kalte Wasser, das über meinen Körper floss, ließ mich langsam wacher werden und ich begann, wieder mehr von meiner Umgebung mitzubekommen. Zu Anfangs hatte ich immer Angst davor gehabt, unter die Dusche zu steigen und mich dem Wasser blind auszuliefern. Ich hatte mich gefühlt wie jemand, der mit gefesselten Händen ins Meer gestoßen wurde, vollkommen panisch und hilflos. Aber dennoch blieb mir keine Wahl, ich musste mich meiner Angst stellen und immer wieder gegen die Panik ankämpfen, wenn ich unter die Dusche stieg und das Wasser aufdrehte. Inzwischen hatte ich festgestellt, dass das Wasser nicht Feind, sondern Freund war und eines der wenigen Dinge, die mir mit etwas Achtsamkeit meinerseits nichts böses wollten. Dahingegen gab es viele andere Gegenstände, die mir gefährlich werden konnten, die gegen mich kämpften und mein Leben noch schwerer machten, als es eh schon war. Seit meiner Heimkehr hatte ich die Küche, die voll mit heißen, spitzen oder scharfen Geräten war, noch keinen Schritt betreten, meine Familie hielt mich bestmöglich davon und von allen Gegenständen, an denen ich mich aus Versehen verletzen konnte, fern. Ich wusste, dass das das beste war, was sie machen konnten, dass ich zu schwach war, um alleine überleben zu können. Ohne Hilfe war ich vollkommen ausgeliefert, zu nichts alleine fähig. Meine Eltern ließen mich keine Minute aus ihrer Nähe, ich war vollkommen auf sie Angewiesen. Jede Nacht überkam mich aufs Neue diese Welle der Hilflosigkeit, mir wurde mit jedem Mal stärker bewusst, wie unnütz ich geworden war und ich schämte mich dafür, meiner Familie so eine Last zu sein. Nicht selten kam ich zu dem Schluss, dass alle, die mich kannten, inzwischen besser ohne mich dran gewesen wären. Und trotzdem reichte mein Mut nicht, dem Ganzen ein Ende zu setzen, ich war egoistisch genug, um weiterhin alle um mich so auszunutzen. Außer mit meiner Familie hatte ich nur mit Ärzten, Psychologen und Fachkundigen Kontakt. Und natürlich mit Tim, der mich seit seiner Rückkehr nach Hause jeden Abend angerufen hatte. Ansonsten wusste ich nicht, ob jemand meiner alten Freunde mir geschrieben hatte, ich hatte den Hinweiston für eingehende Benachrichtigungen bei meinem Handy lautlos gestellt, da ich ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, sie alleine zu lesen und niemanden noch zusätzlich damit belasten wollte. Erstaunlicherweise machte es mir nicht viel aus, keinen meiner alten Schulfreunde seit meiner Blindheit noch ein Mal getroffen zu haben, in den Wochen, die ich im Krankenhaus verbracht hatte, hatten wir uns weiter auseinandergelebt als ich es je für möglich gehalten hätte. Die wenigen Nachrichten, die ich mit Tims Hilfe mit ihnen gewechselt hatte, waren nüchtern und sachlich gewesen, man merkte ihnen an, dass sie nicht mit meiner Behinderung umzugehen wussten. Tim hatte mir erzählt, dass viele der anderen Youtuber, alle mit denen wir regelmäßig Kontakt gehabt hatten, sich nach mir erkundigt hätten, mir alles Gute gewünscht hätten und ausrichten ließen, sie würden sich freuen, mich bald ein Mal wieder auf Skype oder Teamspeak zu hören. Ich hatte sie zurückgrüßen lassen, hatte jedoch nicht vor, so bald mit irgendjemand von ihnen mich wieder zu unterhalten. Ich wollte kein Mitleid von ihnen, wollte nicht ihre befremdlichkeit mir gegenüber hören und schon gar nicht wollte ich sie auch noch belasten, wie ich es schon bei zu vielen tat. Meine Eltern hatten nach Absprache mit meinen Psychologen und Ärzten beschlossen, dass ich den Rest des Schuljahres vom Unterricht fernbleiben würde, um diese Zeit zu nutzen, mich in meine neue Rolle als Blinder einzufinden und schließlich im nächsten Schuljahr die zwölfte Klasse wiederholen und mein Abitur probieren würde. Ich selbst war wie immer natürlich nicht um meine Meinung gefragt worden.

Ich merkte, dass ich die letzten Minuten einfach nur gedankenverloren und bewegungslos in der Dusche gestanden hatte und drehte das Wasser aus, um kurz darauf vorsichtig aus der Dusche zu steigen. Ich griff nach dem Handtuch, dass genau an seinem Platz über der Stange hing, trocknete mich ab und wickelte mich darin ein. Das war noch so eine Veränderung, die mein neues Leben mit sich geführt hatte: Ich, der immer ein Meister des geordneten Chaoses gewesen war, war gezwungen, absolute Ordnung zu halten, jeder Gegenstand musste genau an dem dafür vorgesehenen Platz sein. Wenn ich etwas ein Mal nicht aufräumte, war ich später nicht mehr fähig, es zu finden.

Blindes Vertrauen ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt