18. Angst

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»Wieso Danke? Wofür?«, brachte ich meine Verwunderung zum Ausdruck. Ich spürte Tims Lächeln, als er sanft antwortete:

»Dafür, dass du dich darauf eingelassen hast. Dass du mit mir zu Fuß gegangen bist.«

Ich nickte nur und ein schweres Schweigen legte sich über uns, jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt.

»Wie ist es?«, fragte Tim irgendwann unvermittelt. Ich drehte mich etwas in seine Richtung, damit er meinen fragenden Gesichtsausdruck sehen konnte. Ich wusste nicht, was er meinte.

»Wie ist es, blind zu sein?«, formulierte er seine Frage neu und kurz geriet ich ins stocken. Ich wusste keine Antwort, hatte mir nie etwas zu dieser Frage überlegt. Ich hatte nicht damit gerechnet, je so etwas gefragt zu werden. Oder zumindest nicht so bald. Meine Eltern vermieden dieses Thema so gut es ging und auch meiner Schwester merkte man an, dass sie Angst hatte, es anzusprechen. Ansonsten sprach ich mit niemandem. Inzwischen hatte ich selbst angefangen, möglichst wenig darüber nachzudenken, zu verdrängen und mir nur darauf zu konzentrieren, zu überleben. Und jetzt fragte Tim mich ohne Vorwarnung, frei heraus, wie es sei, blind zu sein und brachte mich somit aus der Fassung. Ich spürte Tims Arme, die sich um meinen Oberkörper legten und mich sanft nach hinten zogen und kurz war ich nervös, als ich nachgab und mich nach hinten fallen ließ. Sich blind zurück fallen zu lassen, und sei es nur ein paar Zentimeter, fühlte sich jedes Mal an, als würde man ungesichert in einer Achterbahn fahren. Sofort entspannte mein Körper sich aber von selbst wieder, als ich Tims Körper spürte, der mir entgegenkam, um mich aufzufangen. Ich ließ zu, dass Tim meinen Kopf auf seiner Brust ablegte und begann, sanft über meine Stirn und meinen Haaransatz zu streichen, während ich seinem gleichmäßigen Herzschlag lauschte und über seine Frage nachdachte. Tims spürbare Nähe gab mir Kraft und schließlich begann ich, einfach loszureden:

»Es ist... so ungewohnt. Alles ist dunkel und du hast keine Ahnung um deine Umgebung. Früher hatte ich Angst vor der Dunkelheit, doch inzwischen ist sie nicht mehr das, was für mich am schwersten zu ertragen ist. Ich habe keine Ahnung mehr, wann Tag und wann Nacht ist, mein Körper spielt vollkommen verrückt. Ich werde super schnell müde und wache dafür mitten in der Nacht auf, ohne wieder schlafen zu können. Gleichgewicht zu halten kostet schon unglaublich viel Konzentration und jeder Schritt, jede Bewegung ist anstrengend. Es heißt immer, dass Blinde beginnen, ihre anderen Sinne besser auszuprägen, das Gehör, Gerüche und kleinste Reize auf der Haut. Das stimmt auch, aber es ersetzt noch lange nicht das Sehen. Ich kann hören, ob ein Raum groß oder klein ist und kann fühlen, ob er Fenster hat. Aber ich kann nicht sagen, welche Farbe die Wände haben oder wo ein Schrank steht. Früher bin ich in einen Fremden Raum gekommen und habe innerhalb von einer Sekunde gewusst, wie er aussah. Heute muss ich jeden Zentimeter ablaufen und erkunden und habe dann immer noch nur eine ungefähre Vorstellung davon. Mit Menschen zu reden ist so unglaublich anstrengend. Ich kann zwar hören, ob jemand lächelt oder in meine Richtung spricht, ob er gut oder schlecht gelaunt ist. Aber ich weiß nicht, wie mein Gegenüber reagiert auf meine Worte. Jedes Gespräch macht mir Angst, wenn ich nicht erkenne, was mein Gegenüber denkt. Ich könnte das Falsche sagen und würde es nicht ein Mal merken.«

»Tut mir leid. Es wirkt nicht so, als ob die Gespräche dir so schwer fallen. Wenn ich das gewusst hätte, ich hätte nicht...«

»Nein«, unterbrach ich den betrübt klingenden Tim, »Nein. Mit dir zu reden ist nicht das Problem. Wenn wir reden fällt es mir leichter. All die Jahre, die wir uns schon kennen, haben wir immer miteinander gesprochen, ohne uns jemals dabei zu sehen. Es ist nichts neues für mich, deine Reaktionen zu erahnen, auch ohne dein Gesicht vor Augen zu haben. Außerdem glaube ich, dass du es mir verzeihen könntest, würde ich etwas falsches sagen.«

Die Worte waren nur so aus mir herausgesprudelt, ich hatte nicht gewollt, dass mein Freund sich Vorwürfe macht und deswegen einfach darauf los geredet. Doch es war die Wahrheit.

Blindes Vertrauen ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt