Kapitel 18

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"Irgendwie traue ich ihm einen Mord trotzdem nicht zu. Auch wenn Einiges dafür sprechen würde", versuchte ich, David zu verteidigen.
"Das denkt man zu Beginn meistens, doch hinterher stellt sich heraus, dass man die ganze Zeit mit einem Mörder zusammengelebt hat", sagte Tristan kühl und nahm mir das Bild und die Folie aus der Hand. "Was hat David dir erzählt? Ein paar Mal habe ich Merles Namen fallen hören, aber ich konnte eurem Gespräch leider nicht ganz folgen." Ich berichtete ihm davon, was ich alles über Merle erfahren hatte und weshalb sie ebenfalls als potentielle Mörderin in Frage kommen könnte. "Doch Merle hätte keinen Grund, Yasmin nach so langer Zeit umzubringen. Außerdem passt das überhaupt nicht zu ihrer Persönlichkeit", meinte ich zum Schluss.
Tristan schwieg ein paar Augenblicke, dann begann er, langsam zu nicken, als wäre ihm soeben etwas Geniales eingefallen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Über Merle habe ich noch nie richtig nachgedacht. Aber Vieles würde Sinn ergeben. Schließlich hat sie ein Händchen für Kinder und ist durch ihren Beruf an den Umgang mit ihnen gewöhnt. Es wäre wirklich leicht für sie, Yasmin verschwinden zu lassen. Schließlich kannten sich die beiden nicht zuletzt wegen Merles Sohn und deine Schwester wäre ihr bestimmt freiwillig gefolgt."
"Doch was hätte sie davon? Wahrscheinlich war es lediglich eine kurze Phase, in der sie meine Mutter beneidet hat. Warum sollte sie so viele Jahre danach beschließen, ihrem Unmut auf diesem Wege Luft zu machen? Ich meine, ihr eigener Sohn war damals bestimmt totunglücklich, als seine einzige Spielkameradin im Umkreis plötzlich verschwunden ist. Damit hätte sie sich also selbst geschadet", erklärte ich ihm.
"Stimmt", murmelte Tristan und seufzte. "Siehst du? Es gibt immer etwas, das keinen Sinn macht."
Wir schwiegen und liefen langsam nebeneinander zum Dorf zurück. In seiner rechten Hand hielt Tristan die Folie, die andere lag eher dekorativ auf dem Lenker des Fahrrads, als dass sie mir beim Schieben half.
Irgendwie beunruhigte mich Tristans Gesichtsausdruck. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er ins Leere und ich musste ihn mehrmals darauf hinweisen, auf den Weg zu achten, da er ansonsten gegen etwas gelaufen wäre. Er wirkte verbissen und ich hoffte nicht, dass er gerade Fäden zwischen allen Dorfbewohnern spann und mich mit anderen Vermutungen überhäufte. Bereits jetzt war es mir sehr unangenehm, diejenigen zu verdächtigen, die ich eigentlich mochte und denen ich einen Mord nicht zutraute.
"Denkst du darüber nach, wer noch als Täter in Frage kommen könnte?", fragte ich vorsichtig und kickte einen kleinen Stein vor mir her.
"Nein", antwortete er, was mich erstaunte und verwundert die Augenbrauen hochziehen ließ.
"Worüber dann?"
Er antwortete nicht sofort. Erst als ich den Mund öffnete, um die Frage noch einmal zu stellen, reagierte er und wandte sich mir zu. "Ich male mir aus, wie wir beweisen könnten, dass David tatsächlich derjenige ist, nach dem die Polizei seit Jahren sucht. Das Bild ist selbstverständlich kein Beweis dafür, aber es macht ihn verdächtig."
Da konnte ich Tristan zustimmen. Dass David im Besitz des Fotos war, zeugte von keinerlei Schuld an dem Tod meiner Schwester. "Was willst du tun?", hakte ich nach.
Tristan kaute auf seiner Unterlippe herum und schien erneut nachzudenken. "Es wäre zu einfach, wenn ich das schon genau wüsste. Wir brauchen jedenfalls etwas, das keinen Zweifel an der Tat offen lässt. Und das bedeutet, dass ich noch einmal in das Büro muss, um mich dort nach etwas umzusehen. Am besten so bald wie möglich."
"Ist das nicht zu riskant? Ich meine, es war heute wahrscheinlich nur Glück, dass du so ungehindert hineinspazieren könntest. Normalerweise arbeitet Pauline dort und ich kann keinesfalls David und sie gleichzeitig ablenken", warf ich ein. Der bloße Gedanke an Tristans Vorhaben ließ meinen Bauch grummeln.
"Keine Sorge, ich frage unauffällig, wann Pauline nicht da ist", erwiderte er. "Oder ich schaue mich nachts einmal in der Werkstatt um. Zu dieser Zeit würde ich sicher niemandem begegnen."
"Das kannst du nicht machen, das wäre Einbruch!", rutschte es mir heraus und ich presste mir schnell eine Hand auf den Mund, als ich bemerkte, wie blöd meine Aussage klang. Vor allem würde Tristan das mit Sicherheit nicht davon abbringen.
"Niemand wird etwas bemerken", beschwichtigte er mich. "Übung macht schließlich den Meister."
Was er damit genau meinte, wollte ich gar nicht wissen. "Ich habe kein gutes Gefühl dabei."
"Mach dir keine Gedanken darüber, du musst nicht mitkommen. Und ich werde doppelt so gründlich vorgehen wie bisher." Wirklich beruhigend klang das nicht, doch ich schwieg lieber.
Tristan war ein Sturkopf und mir war klar, dass ich durch reines Appelieren bei ihm nichts erreichen würde. Auch wenn ich ihm diese Idee unbedingt ausreden wollte. Was passierte nämlich, wenn jemand ihn dort erwischte? Oder man herausfand, dass er nach Yasmins Mörder suchte?
Ein Seufzen entwich mir. Konnte Tristan es nicht einfach bei harmlosen Nachfragen belassen, anstatt nun selbst kriminell zu werden und bei anderen Leuten einzubrechen? Gab es wirklich keine andere Möglichkeit, David etwas nachzuweisen? Vielleicht gab es aber auch nichts, was bewiesen werden musste. Dann wäre alles umsonst gewesen.
"Willst du das wirklich tun?", fragte ich erneut und bekam lediglich ein Nicken als Antwort. Er schien wirklich fest dazu entschlossen zu sein. Plötzlich öffnete ich meinen Mund und hörte mich sagen: "Dann komme ich mit."

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt