Post Mortem - Das Leben nach dem Tod

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Prolog.-

Freitag, der 13. September 2013.
10:34 Uhr, Tanami-Wüste, Australien.

Clara Justis saß in dem Jeep ihres Vaters, das Lenkrad fest umklammernd. Sie starrte durch die schmutzige Windschutzscheibe in das trübe Dunkel außerhalb des Autos. Der Geländewagen holperte über den unebenen Boden und Clara wurde auf ihrem Sitz durchgeschüttelt. Ihr Blick glitt kurz zu dem Gewehr, das auf dem Beifahrersitz lag. Sie schluckte schwer und strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie wusste nicht, was sie schlussendlich dazu gebracht hatte, den Autoschlüssel des Geländewagens aus der Jackentasche ihres Vater und aus dem Wandschrank das Gewehr zu nehmen. Vielleicht lag es daran, dass ihre Eltern sie nicht ernstnehmen wollten, vielleicht musste sie sich auch einfach selbst beweisen, dass sie etwas auf sich allein gestellt schaffen konnte.
Im Scheinwerferlicht tauchte jetzt ein Holzzaun auf. Clara trat hart auf die Bremse und der Jeep kam ruckartig zum Stehen. Ihr Kopf ruckte nach vorn und kam dem Lenkrad gefährlich nahe. Kurz bevor ihre Stirn die Hupe berühren konnte, riss sie den Kopf zurück und sah schwer atmend an die Decke. Ihr Herz schlug wild gegen ihren Brustkorb und pumpte das Blut durch ihre Adern. Sie spürte, wie es an ihren Handgelenken pulsierte und sie schlang die Arme um sich. Kurz schloss sie die Augen, um sich zu beruhigen und atmete tief durch. Die abgestandene Luft im Auto drang ihr durch die Nase bis in die Lunge und angewidert stieß sie die Fahrertür auf. Die Luft, die ihr jetzt entgegenschlug, war schwül und trieb ihr den Schweiß aus den Poren. Sie stieg aus, nahm sich eine Taschenlampe und das Gewehr, und schlug die Tür hinter sich zu.
Clara schluckte schwer und sah sich um. Dann kramte sie eine kleine Karte aus ihrer Hosentasche und faltete sie auseinander. Sie fuhr mit dem Finger die schmale Line entlang, die sich nah am Rand des Blattes entlangzog, bis sie an einem kleinen roten Kreis ankam, der um ein Stück der Linie gezogen worden war.
Clara seufzte, knüllte die Karte zusammen und stapfte los. Sie lief am Zaun entlang und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Bretter. Schließlich entdeckte sie, nach was sie gesucht hatte. Einige Latten am Zaun waren angefressen, sodass ein kleines Loch entstanden war. Clara kniete sich vor die relativ große Lücke im Zaun und strich über das zerfressene Holz. Das Loch war lange nicht groß genug für sie, aber für ein Tier reichte es, solange dieses nicht zu dick war. Aber das war in dieser Gegend nicht der Fall.
Clara setzte sich auf den Boden und lehnte sich an den Zaun. Jetzt musste sie nur noch warten. Das Tier, das dieses Loch in den Zaun gefressen hatte, musste schließlich irgendwann auftauchen. Claras Eltern wussten inzwischen, dass es ein Dingo gewesen war, der schon einige Schafe ihres Vaters gerissen hatte.
Clara zog das Gewehr auf ihren Schoß und starrte in die Dunkelheit. Sie wusste nicht, wie lange sie da sitzen würde und hatte sich auf eine lange Nacht eingestellt, doch schon nach weniger als einer Stunde hörte sie ein Rascheln in der Nähe. Clara richtete sich kerzengerade auf und entsicherte das Gewehr. Sie hockte sich hin, als sie ein leises Knurren hörte. Aus dem Schatten eines vertrockneten Baumes schlich ein weiterer Schatten, geduckt, mit angelegten Ohren. Clara schluckte mit trockener Kehle und zielte. Ihre Hände zitterten leicht und die Bewegungen übertrugen sich auf das Gewehr. Der Dingo kam langsam näher, mit aufgestelltem Nackenhaar und bleckte die Zähne. Clara sah seine Augen im Dunkeln glitzern. Sie befeuchtete sich die Lippen und legte den Zeigefinger auf den Abzug.
Doch bevor sie schießen konnte, hörte sie es wieder rascheln. Verwirrt drehte sie den Kopf und sah dunkle Gestalten auf sich zurennen. Aber es waren keine Dingos, sondern Menschen. Mit Gewehren, die auf sie zeigten.
Mit einem erstickten Schrei wollte Clara aufstehen, doch noch bevor sie sich bewegen konnte, hörte sie einen Knall, ohrenbetäubend laut. Sie sah, wie etwas aus ihrer Brust lief, dunkel und dickflüssig. Sie strich mit einem Finger darüber und hob die Hand vor die Augen. Rot. Sie hob den Blick und beobachtete, wie jemand auf sie zurannte, doch sie konnte das Gesicht nicht erkennen. Sie spürte, dass sie zur Seite kippte, dann: Nichts mehr…

15:54, Florenz, Italien.

Ariana Piccariello stand in ihrem neuen Kleid vor dem großen Spiegel in ihrem Kleiderschrank. Fröhlich lächelnd strich sie über den gerüschten Rock, der ihr bis knapp über die Knie reichte. Ihr langes blondes Haar, das sie so von den anderen Italienerinnen unterschied, lockte sich sanft über ihre Schultern und ihre blauen Augen blitzten lustig.
Am Morgen hatte Ariana das Päckchen mit eben diesem Kleid von dem mit Geschenken gefüllten Geburtstagstisch geöffnet und war ihrem Vater um den Hals gefallen. Monate vorher schon waren sie zusammen durch die Läden der Florenzer Innenstadt geschlendert, um ein passendes Kleid für ihren Geburtstag zu suchen. Dieses war zwar unverschämt teuer, aber Ariana hatte sich beim ersten Anblick darin verliebt und hatte ihren Vater so lange angefleht, bis dieser zugestimmt hatte, es ihr zum Geburtstag zu schenken. Ihre Stiefmutter allerdings war nicht sonderlich begeistert davon, dass Ariana ein Kleid zu solch einem hohen Preis bekommen sollte. Sie hatten allgemein kein sonderlich gutes Verhältnis. Francesca Piccariello versuchte ihrer Stieftochter das Leben schwer zu machen, seit sie fünf Jahre zuvor Arianas Vater Giuseppe Piccariello geheiratet und eine eigene Tochter in die Ehe mit eingebracht hatte. Diese war ein Jahr älter als ihre Stiefschwester und versuchte sie mit allen Mitteln zu übertrumpfen. Francesca unterstützte sie dabei, wobei sie darauf achtete, dies nicht allzu offensichtlich zu tun, um Giuseppe nicht zu beunruhigen oder ihm einen Anlass zu geben, sich von ihr zu trennen.
Ariana zuckte zusammen, als von unten eine Stimme erklang, die nach ihr rief: „Principessa!“
„Ich komme!“, antwortete sie und schloss die Kleiderschranktür. Dann ging sie hinunter ins Wohnzimmer zu ihrem Vater, Francesca und ihrer Stiefschwester Giulia. Arianas Stiefmutter hielt ein wunderschönes Geburtstagsküchlein in den Händen und strahlte sie ungewohnt heiter an. Ariana lächelte verwirrt zurück und blinzelte, als Giulia ihr einen Porzellanteller mit dem Küchlein darauf hinhielt. Sie nahm den Teller und kostete mit der Gabel, die Giulia ihr hinhielt. Verblüfft sah sie Francesca an. „Der schmeckt super! Vielen Dank.“ Sie lächelte und aß noch ein Stück. Ihre Stiefmutter lächelte zufrieden. „Das freut mich, Ariana.“
Sie setzten sich an den gedeckten Wohnzimmertisch, an dem bereits Arianas Großeltern warteten, die ihr zum Geburtstag gratulierten und ihr ein großes Geschenk überreichten. Sie bedankte sich lachend und stellte es neben den Tisch, um es später auszupacken. Vorerst aß Ariana ihr Küchlein, während die anderen am Tisch den Kuchen verzehrten, den Giuseppe gebacken hatte. Nachdem sie fertig waren, standen sie auf und Ariana nahm das große Geschenk mit zu ihrem Geburtstagstisch. Sie wollte gerade die Verpackung öffnen, als das Päckchen vor ihren Augen verschwamm. Hektisch blinzelte sie und die Sicht verbesserte sich kurz, doch das hielt nicht lange an. Arianas Kopf fing an zu pochen und sie griff sich an die Stirn.
„Ariana? Alles in Ordnung?“, hörte sie Francescas Stimme und sie blickte zu ihr. Jemand, der ihre Stiefmutter nicht gut kannte, könnte meinen, dass in ihren Augen Besorgnis schimmerte, doch Ariana war sich sicher, dass sie Genugtuung in den hellen Augen sah.
„Ich weiß nicht… Mir ist etwas schummrig. Ich werde besser kurz an die frische Luft gehen. Bin gleich wieder da“, antwortete Ariana und ging an Giulia vorbei, die versuchte, den Hass in ihren Augen zu verbergen. Sie versuchte, Sorge in ihren Blick zu legen, doch es misslang ihr kläglich. Sie starrte Ariana nach, die auf dem Weg zur Haustür war.
Diese griff gerade nach der Türklinke, als es stockdunkel vor ihren Augen wurde. Sie wankte, tastete um sich und fasste ins Leere. Sie kippte zur Seite und schlug schwer auf dem Boden auf. Eine eisige Kälte breitete sich zuerst in ihren Beinen aus, dann in ihren Armen und drang langsam bis zu ihrem Herzen vor. Ihre Kehle zog sich zusammen und sie rang nach Atem. Sie spürte eine warme Hand auf ihrer kalten Wange, doch die Schwärze vor ihren Augen wollte nicht verschwinden. „Papa…“, flüsterte sie mit letzter Kraft und hob ihre taube Hand, um sie auf seine zu legen. Plötzlich erstarrte sie. Die Kälte hatte ihr Herz erreicht und Ariana spürte, wie es immer langsamer und langsamer schlug. Sie tat einen letzten schweren Atemzug – zu mehr hatte sie keine Kraft.

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