Ende der Nerven

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"Ich? Zu wenig?! Du spinnst doch!" Sie warf mir diese Worte wehmütig gegen den Kopf und tat so, als wäre ich irgendein Wahnsinniger und nicht ihr großer Bruder, der seit den letzten paar Monaten nur das Beste für sie wollte. Wie oft sollte ich es ihr noch erklären? Langsam hatte ich echt keine Kraft mehr dafür. Und wie lang führten wir heute schon diese fruchtlose Diskussion? 20 Minuten? 30? 40? Keine Ahnung! Aber sie wollte einfach nicht begreifen. Und sie tat mir leid deswegen, denn eigentlich konnte die Arme nicht viel für ihr Problem.
Unsere Eltern starben vor zwei Monaten bei einem Zugunglück. Klar waren wir Kinder traurig. An manchen Tagen wollte Jasmin nicht aus dem Bett gehen. Ich kam mit der Sache aber mehr oder weniger klar. Ich will nicht der tapfere Held sein, ich lag auch weinend im Bett. Aber wenn, dann schloss ich die Tür zu, heulte so leise es ging und tat so, als würde ich arbeiten. Man sagt, es sei schlecht, seine Gefühle zu versecken, man solle offen mit ihnen umgehen. Man solle weinen, wenn einem danach war.
Bei mir war das anders. Ich war fest entschlossen, ich durfte nicht einmal ein Anzeichen für Trauer zeigen, sonst würde meine kleine Schwester genauso zusammenbrechen. Stattdessen tröstete ich sie anfangs und erklärte ihr dann immer wieder, sie solle das Ganze vergessen. Ich wusste nämlich genau, was ein derartiges Trauma mit einer Sechzehnjährigen anstellen konnte. Und so lebten wir unser Leben weiter, Tag für Tag. Dieses Zugunglück hatte nie stattgefunden. Glaub mir, als ich immer wieder mal darüber nachdachte und realisierte, dass dieses Mädchen mitten in der Blütephase ihres Lebens ihre Eltern verlor, als wäre es das Normalste auf der Welt - ich war für den Moment der glücklichste große Bruder in diesem Sonnensystem. Doch letzthin scheint die grausige Realität meine Schwester wie aus dem Nichts eingeholt zu haben.
Ich schaute ihr ins Gesicht, was mir nicht allzu einfach fiel. Ich konnte nämlich in ihren Augen lesen, was sie dachte. Sie wollte, dass ich den Mund hielt und sie endlich mit diesem so nervigen Thema in Ruhe ließ. Mein Blick wanderte zu ihren Armen, ihren hauchdünnen Armen, auf denen ich behutsam meine Hände legte. Ich bin immer vorsichtig, wenn ich Jasmin anfasse, weil ich stets diese alberne Angst habe, etwas an ihrem zarten Körper kaputt zu machen. Meine Hände fuhren runter auf die ihrigen. Ich konnte jeden einzelnen Knochen spüren, an den Fingern, sowie an den Handflächen. Ihre Beine waren Stelzen und auch der Oberkörper war in keinem besseren Zustand. Ich glaube, an einem Babykätzchen wäre mehr Fleisch dran gewesen als an ihr.
In einfachen Worten: sie war psychisch zerstört und magersüchtig. Sie war krank.
"Jonas, mein Bruderherz", flüsterte sie liebevoll und schenkte mir ein müdes Lächeln. Ich musste augenblicklich Tränen ausstoßen. Wie ich meine Schwester liebte. Sie war die letzte, die mir noch blieb. Sie war mir wichtiger als alles andere auf der Welt!
Dann blickte ich nervös rauf zur Krankenschwester, ich kam mir nämlich extrem bescheuert vor. Seelenruhig saß diese aber nur da und lächelte mich nun zuckersüß an. Keine Spur von Mitleid oder Verunsicherung. Sie schien demnach nicht zum ersten Mal hier zu sein.
"Jonas..."
Diesmal erschrak ich, als Jasmin meinen Namen murmelte.
"Tu mir doch bitte einen Gefallen", keuchte sie fast. Sie zitterte am ganzen Leib und ihre Augen zuckten wie verrückt, was meinen mentalen Zustand nicht gerade verbesserte.
"Ich muss noch einen alten Freund anrufen", erklärte sie, "Sei doch bitte so gut und hol mir mein Handy aus der Handtasche, die unter diesem Krankenbett liegt"
Und somit entspannte ich mich wieder. Warum war sie so nervös? Wenn es nur das war, was sie mir sagen wollte... Dennoch war es merkwürdig. Ich hätte schwören können, dass sich unter dem Bett, auf dem sie lag, lediglich ein paar ihrer Bücher befanden. Sie waren mir schon am Anfang des Besuchs aufgefallen, weil sie nicht dort hingehörten.
Ich bückte mich, um nachzuschauen, aber fand nur einen Stapel Bücher - von Fantasy bis zum kitschigsten Liebesroman. Als ich dabei war, wieder hochzukommen, rief meine Schwester ungeduldig: "Hinter dem Stapel, Jonas!"
So kroch ich wieder unter das Bett und schob die Bücher also beiseite, aber nur, um wieder enttäuscht zu werden: immer noch keine Handtasche.
Was sollte das? Gut, meine Schwester war des Öfteren zerstreut und verlegte manchmal ihre Sachen, aber hier war doch jetzt etwas faul? Wieso sollte sie ihre Handtasche überhaupt unter das Bett legen? Und was haben diese Bücher hier unten verloren?
Ich bekam es erneut mit der Angst zu tun. Mein Herz schlug wie verrückt. Aber nicht, weil ich nicht wusste, was hier los ist! Im Gegenteil: weil ich jetzt begriff, was die Kleine vorhatte.
Ruckartig stemmte ich mich wieder hoch zu Jasmin. Wie ich's mir gedacht hatte: vom Medikament auf dem Nachtkästchen, dieser weißen Flüssigkeit, war höchstens noch der Satz übrig. Das nervenlähmende Mittel war bereits in ihrem Körper. Und somit ließ sie mir keine Gelegenheit mehr, mich anständig von ihr zu verabschieden. War ich zu penetrant gewesen? Egal. Denn sie war zwar noch bei vollem Bewusstsein, aber der Tod war nicht mehr zu bremsen. Es war wohl in Ordnung so.
Meine gesamte Familie also: Mutter, Vater und jeden Moment auch Schwester. Ich will nicht darüber nachdenken, wer als nächstes dran glauben muss. Noch ein letzter Blick zu meiner so gut wie toten Schwester. War das ein Lächeln auf ihrem Gesicht?


Hallo ^_^ Erstmal freue ich mich sehr, dass du diese erste Kapitel gelesen hast! Das zweite ist bereits in Planung. Wenn du also nichts mehr verpassen willst, würde ich mich sehr freuen, wenn du mir folgen würdest ^-^
Eine Bewertung ist natürlich auch nicht verkehrt :3

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 08, 2016 ⏰

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