Eine warme Bise wirbelte die pechschwarzen Haare des Mädchens auf, das fröhlich schlendernd über die weiten Wiesen ging. Man hörte ihr glockenhelles Stimmchen schon von weitem über das Grün klingen. In ihrer Hand eine zierliche Puppe und auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln, sang und summte sie wunderschöne Lieder. Der Himmel war vollkommen wolkenlos und die Sonne strahlte mit dem kräftigen Gelb der Sonnenblumen um die Wette.
Plötzlich war es still, nur das Rauschen des nahgelegenen Waldes war zu hören. Das Mädchen mit den grünen Augen lag nun im Gras und schaute gedankenversunken in den blauen Himmel. Auf einmal hörte man ein Schluchzen und das vorhin noch fröhliche Mädchen war mit glänzenden Tränen übersäht. Sie dachte an ihre Mutter. Die Mutter war vor einem Jahr bei einem Brand im Haus gestorben. Seither war alles anders. Lisa, so hiess das Mädchen, war oft allein zuhause, da ihr Vater arbeiten musste. An diesem schönen Mittwoch war wieder einmal so ein Tag. Der Vater brachte sie früh zur Schule und sollte erst spät am Abend zurückkehren, so ging sie nach der Schule aufs Land. Sie schlenderte durch das grüne Gras und beobachtete die Bienen, die fleissig von Blume zu Blume flogen. Hier war sie oft mit ihren Eltern picknicken. Die Wiese war aber auch zu schön. Die Stadt sah man nur noch in der Ferne und die luftverpestenden Autos hörte man nicht mehr.
Lange lag Lisa mit geschlossenen Augen da, bis ihr plötzlich ein merkwürdiger Geruch in die Nase stieg. Es roch irgendwie nach ... Rauch! Sie stand ruckartig auf und schaute sich um. Lisa sah Rauch aus dem Blätterdickicht des Wäldchens aufsteigen. Warum sie das tat, weiss niemand. Auf jeden Fall rannte sie auf den Brand zu. Zwischen den hohen Bäumen lief sie immer weiter zur Gefahr hin. Obwohl in ihr Panik ausbrach rannte sie weiter, denn irgendwie wurde sie vom Brand angezogen. Als sie auf einmal inmitten einer Waldlichtung stand, sah sie einen Mann der Äste eines Kirschbaumes zu verbrennen begann. Lisa bemerkte, dass das Feuer bereits auf den Baum überging, doch der Mann hatte davon nichts bemerkt. "Pass auf, du setzt noch den ganzen Baum in Brand", schrie sie dem Mann zu. Der Mann schaute sie erst verwirrt an und drehte sich dann dennoch um. Der Baum brannte nun. Als er das immer grösser werdende Feuer sah, blitzte in seinen Augen Angst auf. Er versuchte sofort das wütende Feuer zu löschen, doch die Flammen waren schon zu hoch. "Ruf die Feuerwehr", Lisa heulte nun. Der Mann zückte hektisch sein Handy und wählte die Nummer der Feuerwehr. Ab da bekam Lisa nichts mehr mit, sie starrte nur entsetzt auf den Baum und weinte. Manchmal glaubte man sie flüstern zu hören; "Mama, bitte nicht nochmal" Als die Feuerwehr ankam, stand sie immer noch wie eingefroren an ihrem Platz. Und das, bis der Baum endlich gelöscht war. Der Kirschbaum war zur Hälfte kohlrabenschwarz, die andere Seite hatte das Feuer halbwegs überstanden. Lisa rannte zum Kirschbaum hin und umarmte ihn. Wieder kullerten ihr Krokodils Tränen über die Wangen, doch dieses Mal lächelte sie dabei. Aus ihrem Mund hörte man ein leises Wispern: "Danke Mama!"
Seit diesem Ereignis ging sie fast jeden Tag zum Kirschbaum. Lisa pflegte den Baum gemeinsam mit ihrem Vater wieder gesund. Oft sass sie unter dem Baum, ass Kirschen und erzählte von ihrem Tag, den neuen Freunden, die sie kennengelernt hat und von den dummen Hausaufgaben. Der Kirschbaum war für sie wie eine Mutter geworden. Als sie älter wurde, nahm sie einige Kirschen mit nach Hause um einen leckeren Kirschkuchen zu backen.
Heute ist Lisa 34 und Mutter von zwei zuckersüssen Zwillingen. Sie besitzt eine kleine Konditorei in der sie ihren einzigartigen Kirschkuchen und noch viele weitere Leckereien anbietet. Jeden Morgen lächelt sie zufrieden zu dem Schild ihres Geschäftes hoch. "The Mum-Tree" steht da in kirschroter Schrift darauf.