Die Entscheidung

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Sarah parkte auf der Einfahrt. Sie blickte auf das Strandhaus und fragte sich, ob sie das Richtige tat oder einfach nur hysterisch reagiert hatte. Das Strandhaus sah wie immer gut gepflegt aus. Mom hatte Gärtner, die sich um die Außenanlagen kümmerten und regelmäßig nach dem Rechten sahen. Das Haus hatte ein flaches Dach und einen würfelförmigen Hauptteil, von dem links und rechts kleinere Trakte abgingen, in denen die Schlaf- und Arbeitszimmer und drei Bäder untergebracht waren. Im zentralen Hauptteil des Hauses lag ein großzügiger offener Wohnbereich mit Küche, ideal um Gäste zu empfangen, während der Rest des Hauses eher privaten Zwecken diente. Die gesamte zum Meer hin zeigende Front war verglast. Das Haus lag auf einer Anhöhe direkt hinter den Dünen. So konnte man von fast jedem Raum auf das Meer blicken. Sarah liebte dieses Haus. Ein mit ihrem Vater befreundeter Architekt hatte es noch vor ihrer Geburt entworfen. Seit sie lebte, kannte sie dieses Haus. Doch es war bestimmt drei Jahre her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war.

Wenn Gäste da waren, wurden die großen Verandatüren geöffnet, so dass die salzige Abendbrise durch die Zimmer wehen konnte. Ihr Vater kochte exzellente Gerichte und ihre Mom unterhielt die Gäste mit kleinen Anekdoten.

Jetzt lag das Strandhaus still und menschenleer vor Sarah. Früher war es das Wochenendhaus ihrer Familie gewesen und auch die Ferien hatten sie fast immer hier verbracht. Nachdem Sarah ausgezogen war, hatten auch die Eltern das Strandhaus nicht mehr so oft benutzt. 'Ich bin froh, dass sie es nicht verkauft haben.', dachte Sarah, aber ihre Mutter hing genauso daran wie sie, da war Sarah sicher. Zu viele Erinnerungen waren hier eingeschlossen: Erinnerungen an glückliche Tage mit der Familie, aber auch traurige: nicht weit vom Haus, war Sarah zusammen mit ihrer älteren Schwester Abigail im Auto verunglückt. Abigail hatte den Unfall nicht überlebt.

Sarah holte ihre Tasche vom Beifahrersitz und schloss die Tür zum Strandhaus auf. Alles war mit Tüchern abgedeckt. Wann waren ihre Eltern wohl zum letzten Mal hier gewesen? Sarah hatte ihre Mutter erst heute Morgen informiert, dass sie ins Strandhaus fahren wollte. Mom hätte normalerweise jemandem Bescheid gegeben, der alles für sie vorbereitet hätte: die Tücher von den Möbeln gezogen, Staub gewischt und frische Blumen arrangiert. Mom liebte Blumenarrangements. Der Kühlschrank wäre auch schon voll gewesen. Mom war völlig überrascht von Sarahs Plänen, weil sie schon so lange nicht mehr hier gewesen war. "Warum ausgerechnet jetzt und so spontan?", hatte sie gefragt. "Ich brauche einfach mal Ruhe, nach all den Prüfungen, dem Stress.", war Sarahs Antwort gewesen. "Wolltest Du nicht mit Peter nach Europa fahren? Dir mal was gönnen?" Sarah hatte gerade ihren Abschluss gemacht, sie konnte fortan als Anwältin arbeiten. Eine renommierte Kanzlei hatte sie eingestellt. In einem Monat würde sie dort anfangen. Alles lief perfekt und Peter wollte den verbleibenden Monat mit ihr durch Europa reisen. Er würde ihr bald einen Heiratsantrag machen. Da war sie sicher, aber dann hatte Sarah etwas aus der Bahn geworfen. Etwas, worüber sie nicht mit ihrer Mutter sprechen wollte. Auf keinen Fall!


Sarah zog die Tücher von den Möbeln, legte sie sorgfältig zusammen und trug sie in den Waschraum. Sie nahm sich vor, sie später zu waschen. Sie brachte ihre Tasche in ihr ehemaliges Kinderzimmer, das ganz am Ende des östlichen Traktes lag, zog den Reißverschluss auf und legte sorgfältig die Kleidung in ihrem Schrank ab. Sie öffnete die Verandatür zum Meer und die Tür zum Garten. Von hier konnte man zum Nachbarhaus sehen. Es war einige hundert Meter entfernt. Jede Familie hier hatte ihre Ruhe. Es war ein wunderbarer sonniger Tag. Sie sah das blaue Wasser und es kribbelte sie in den Füßen. Sie musste hinunter an den Strand gehen und die nackten Füße ins kalte Wasser halten. Es gab nichts Schöneres. Sie ging in die Küche, verfrachtete die mitgebrachten Lebensmittel in den Kühlschrank, nahm sich eine Wasserflasche und ging hinunter zum Strand. Keine Menschenseele war zu sehen. Es war ein Wochentag und die Luft sehr frisch. Bis zum Frühling waren es noch einige Wochen. Trotzdem zog Sarah die Schuhe aus. Sie genoss es unheimlich, die Füße in den kühlen Sand zu stecken. Sie krempelte die Beine ihrer Stoffhose ein wenig nach oben und lief zum Wasser. Vorsichtig prüfte sie mit einem Zeh die Temperatur. Puh, das war kalt! Aber das hatte sie noch nie abgehalten. Vorsichtig ging sie hinein. Ein Schauer lief über ihren Körper und ihre Beine schmerzten für einen Moment wegen der eisigen Kälte. Sie ließ sie von den Wellen umspülen. Sarah atmete tief die salzige Luft ein. Möwen kreischten über ihr. In weiter Ferne konnte sie ein Schiff ausmachen. Sie fühlte sich so winzig klein hier an der See. Das konnte Vieles wieder zurechtrücken. Kurz blitzte in ihr die Erinnerung an Abigail auf - ihre Schwester. Nicht weit von hier, war es geschehen... Sarah schob die Gedanken schnell zur Seite. Sie fühlte sich erschöpft. Sie hatte kaum geschlafen, hatte heute morgen noch einige Dinge erledigt und war gleich nach dem Mittagessen losgefahren, hatte unterwegs ein paar Lebensmittel besorgt und war dann direkt hier raus gefahren.

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