Kapitel 6

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  „Also, Tori, erzähl mir doch mal was über dich. Was sind deine Hobbys?", fragt Henry,während wir auf unser Essen warten.„ Ich lese sehr gern, das ist auch mein einziges Hobby. Ich bin eher der introvertierte Typ",antworte ich.„Lesen ist auch eines meiner Hobbys. Zu Hause hat meine Familie eine riesige Bibliothek mit allen bekannten Werken der letzten Jahrhunderte. Was sind deine Lieblingsbücher?"In diese Bibliothek würde ich gern mal gehen. Von mir aus ziehe ich dort auch ein, nur damit ich in den Genuss komme, jedes einzelne Buch zu lesen.„Ich mag Klassiker, wie Vom Winde verweht. Aber ich liebe Fantasy Literatur! Hast du schon Game of Thrones gelesen?", sage ich und bin echt auf seine Antwort gespannt. Das sind die mit Abstand besten Bücher, die es derzeit gibt und ich bewundere den Autor für sein Kunstwerk. Henry lacht. „Natürlich habe ich die gelesen! Einfach grandios, was sich der Autor hat einfallen lassen. Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Charakter in diesen Büchern."Wir haben ein gemeinsames Interesse, hake ich auf meiner imaginären Liste ab. Läuft richtig gut bisher.„Welcher Charakter würdest du gern sein?"; frage ich neugierig.Henry überlegt kurz. „Ich wäre ein guter Jamie Lennister. Wir sind beide gut aussehend und setzen uns für unsere Familie ein."Ich grinse. Seine Begründung ist ein bisschen schwach, aber das macht nichts.„Welchen Charakter würdest du gern spielen?", fragt er nun mich.„Angesichts meiner roten Haare, wäre ich eine tolle Sansa- Kopie", antworte ich.„Da hast du recht"; stimmt er mir zu. „ Du bist aber klüger als Sansa, finde ich. Sie ist so ein verwöhntes Mädchen, das mit der harten Realität nicht zurechtkommt."Seine Worte über die Buchfigur sind hart, aber völlig zutreffend. Endlich jemand, mit dem ich darüber reden kann! Ich könnte mich den ganzen Abend nur darüber mit ihm unterhalten.Unser Essen kommt. Es sieht lecker aus und wir wurden gar nicht nach unseren Wünschen gefragt, fällt mir gerade auf.„Ich wundere mich, dass es hier keine Speisekarte gibt", sage ich zu Henry.„Ich habe mir erlaubt, das Essen vorzubestellen. Schmeckt es dir nicht? Soll ich etwas anderes kommen lassen?", fragt er besorgt. Wie rührend!„Nein, ist schon in Ordnung, ich wunderte mich nur. Das Essen schmeckt sehr gut", sage ich schnell, damit er mir nicht noch in Tränen ausbricht. Ich habe tatsächlich lange kein Schnitzel mehr gegessen.„Mir auch. Hier gibt es leckeres Essen. Ich glaube, ich komme öfters nach Deutschland",meint Henry.„Nur wegen dem Essen?", frage ich belustigt.Er lächelt charmant. „ Nein, hauptsächlich wegen dir. Das Essen ist nur die schöne Nebenwirkung."Mein Gesicht ist bestimmt so rot wie der Wein. Schnell trinke ich noch einen Schluck, um mir eine Antwort zu überlegen.„Danke", sage ich dann trotzdem nur. Immer, wenn ich es brauche, schaltet mein Gehirn sich aus. Das war bestimmt die lahmste Antwort aller Zeiten. Jeder Frau wäre etwas Besseres eingefallen, nur mir wieder nicht. Ich könnte mein Erfolgsgeheimnis für depressive Singlefrauen als Buch veröffentlichen. Würden bestimmt einige kaufen und ich käme mit dem Geld über die Runden.Hilfe, worüber denke ich wieder nach? Ich sitze hier im Restaurant mit einem wundervollen Mann und denke an depressive Singlefrauen? Irgendwas stimmt nicht mit mir.„Tori, alles okay?", holt Henry mich aus seinen Gedanken.„Ja, alles bestens", lüge ich. Freilich kann ich ihm nicht von meinen Hirngespinsten erzählen,sonst lässt er mich sofort sitzen.Wir essen schweigend weiter. Es ist ein angenehmes Schweigen und ich finde es schade, als er die Kellnerin heran winkt, um die Rechnung zu bezahlen. Henry ist eben ein Gentleman.Ich verstehe nicht, welche Summe sie nennt, aber Henry bezahlt mit einem lila Schein. Wir haben doch bloß Schnitzel gegessen, wie kann es da fünfhundert Euro kosten?!Die Kellnerin freut sich über diese großzügige Spende und verschwindet wieder. Es dauert nicht lange, da taucht Andrej wieder auf.„Bereit?", lautet seine knappe Frage.„Ja, lass uns gehen. Hast du alles geregelt?", sagt Henry zu ihm. Er reicht mir meine Jacke und hilft mir beim Anziehen. Wir verlassen das Restaurant und gehen zur Limousine. Als wir uns der Limousine nähern, stelle ich fest, dass noch zwei weitere Freunde von Henry aufgetaucht sind. Was machen die hier?„Guten Abend, Pete und Jake. Das ist Viktoria", stellt er mich ihnen freundlich vor. Die beiden nicken mir höflich zu und schweigen. Wie Andrej. Ich hoffe, dass sie nach einiger Zeit ihr Schweigegelübde ablegen und mit mir reden, sonst werden wir uns wohl nicht gut verstehen. Andrej hält uns die Tür der Limousine auf, bevor er selbst und anderen dazu steigen.Im Auto ist es enger geworden und ich sitze Schulter an Schulter neben Henry. Sein Parfüm umfängt mich und ich fühle mich sicher und geborgen neben ihm.„Bringt mich bis zur U-Bahn. Von dort fahre ich zu einer Freundin", sage ich zu ihm.„Wenn du willst, bringen wir dich auch direkt dahin", schlägt er hilfsbereit vor.„Das ist lieb von dir, aber sie holt mich dort ab und ich möchte in Ruhe mit ihr reden", sage ich bestimmt.„Oh, über mich?", scherzt er.„Wie kommst du darauf? Natürlich nicht", sage ich grinsend. „Aber wenn du magst, kannst du mir ja schon vorsagen, was ich ihr erzählen soll."„Du könntest sagen, dass ich einfach umwerfend bin und meine eigene Limousine habe.Meinetwegen kannst du auch von unserem ersten Treffen berichten."„Um Himmels Willen, das kann ich keinem erzählen. Es ist mir immer noch peinlich", sage ich lachend.„Gut, dann nicht. Also, wir bringen dich zur U-Bahn, aber ich warte noch, bis sie kommt,okay?"„Ja, gern", sage ich. Allein möchte ich dort unten nicht sein müssen. Zwar muss ich meiner Freundin erst noch Bescheid geben, dass ich zu ihr komme, aber sie wird das verstehen. Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie immer noch ein Punk und wird die Nächte wohl nicht gerade durchschlafen. Aber ich schreibe ihr erst, wenn ich in der U- Bahn sitze.Die Fahrt endet viel zu schnell. Ich würde bis ans Ende der Welt mit Henry fahren wollen. Praktischerweise hat die Welt kein Ende, weil sie rund ist und deshalb würden wir endlos weiter fahren. Aber Berlins Straßen sind endlich.Widerwillig steige ich aus der kuscheligen Limousine und steige die Stufen zur U- Bahn hinab. Henry und seine Freunde folgen mir. Unten ist niemand zu sehen. Gut so. Auf irgendwelche Druggies, das ist mein Wort für Drogensüchtige, kann ich verzichten.Wir sehen auf die Anzeige. Die nächste Bahn kommt in fünf Minuten. Meine Zeit mit Henry läuft allmählich ab.„ Ich fand es wirklich schön mit dir heute", sage ich ehrlich. „Wenn du magst, können wir das gern wiederholen."Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. „Nur zu gern, Viktoria. Wann reist du wieder nach Irland?"„Nächste Woche bin ich wieder dort", antworte ich.„Dann werden wir uns dort wieder sehen. Ich habe bestimmt auch wieder...geschäftlich in Cork zu tun", meint er mit einem Augenzwinkern.Ich höre das Rauschen der Bahn und kann ihre Scheinwerfer sehen. Es wird Zeit, sich zu verabschieden.„Ich wünsche dir eine gute Nacht, Tori", sagt Henry und umarmt mich zum Abschied. Ich atme tief seinen Duft ein, ehe ich mich an den Gleis stelle. Er macht sich mit seinen Freunden schon mal auf den Rückweg, schließlich wartet die Limousine auf sie.Die Bahn hält und ich werfe einen Blick zurück, um ihn ein letztes Mal zu sehen.Das hätte ich nicht tun sollen, denn zwei junge Männer steigen aus dem Zug und rempeln mich an.„Ey, du Bitch, aus dem Weg mit dir", sagt der eine und schubst mich auf den Boden. Ich spüre, dass ich mir die Handflächen aufschürfe. Ich will aufstehen, aber sie werfen mich erneut zu Boden. Ich merke, dass sie meinen Körper abtasten, ob ich irgendwo Wertgegenstände verstecke. Meine Tasche liegt unter mir begraben und ich werde sie garantiert nicht rausrücken. Mit aller Kraft trete ich nach den Männern, deren Gesichter von Kapuzen abgeschirmt sind. Ich treffe einen am Bauch und er taumelt zurück. Das verschafft mir die Chance, aufzustehen. Ich halte meine Tasche fest umklammert und will wegrennen,als mich der andere Kerl von hinten festhält und mir ein Messer an die Kehle hält.„Du hältst dich wohl für besonders schlau, was? Jetzt kannst du nicht mehr weg. Gib mir dein Geld und dein Handy und ich lasse dich leben", raunt er mir ins Ohr. Sein Atem stinkt nach Bier und anderen Sachen, die ich mir gar nicht vorstellen will.Mein Herz rast vor Angst. Sowas ist mir noch nie passiert, was soll ich jetzt machen? Dass ich ihm mein Geld und mein Handy gebe, kommt nicht in Frage. Es sind aber auch keine anderen Menschen da, die ich um Hilfe bitten könnte. Die Bahn ist schon weiter gefahren. Es niemand da und ich bin allein. Hilflos.Der Erste hat sich von meinem Tritt erholt und kommt nun grinsend auf mich zu. Sie sind in der Überzahl und ich habe verloren. In Filmen ist das der Moment, in dem das Opfer sein Handy ergreift und ein „Hilf mir" an seinen Freund sendet. Leider kann man sich an Hollywood kein Beispiel für das wahre Leben nehmen. Dort überleben immer die Guten und die Bösen werden bestraft. Warum kann es nicht in echt so sein?„Gib uns die Tasche", fordert er mich auf. Ich gebe ihm den Namen A- Hörnchen. Mit seinen vorstehenden Zähnen sieht er tatsächlich so aus. Denjenigen, der mich festhält, nenne ich B –Hörnchen, weil er der Dümmere von beiden ist.„Nein", sage ich. B –Hörnchen hält mir die Klinge noch fester an den Hals. Ihm gefällt es scheinbar nicht, dass ich sprechen kann.„Wir sind allein hier. Wenn du uns die Tasche freiwillig gibst, lassen wir dich in Ruhe",schlägt A-Hörnchen vor. Verhandlungen sind sein Spezialgebiet.Ich bin kurz davor, ihm tatsächlich meine Tasche auszuhändigen. Was bleibt mir anderes übrig?„Na, na, ihr werdet doch so nicht mit einer Frau sprechen", mischt sich eine dritte Person ein.Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Andrej, Pete und Jake auf uns zukommen. Noch kann AHörnchenlachen, denn wie es aussieht, sind meine Retter unbewaffnet.„Kevin hält ihr ein Messer an den Hals, falls ihr Spackos es noch nicht bemerkt habt", sagt AHörnchen. Ich bin froh, dass Andrej, Pete und Jake kein Deutsch verstehen, sonst würden sie bestimmt wütend werden und sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. BHörnchen Kevin lockert plötzlich seinen Griff und ehe ich es mich versehe, hat Henry mich fest in seine Arme geschlossen.„Wie...?", setze ich zu einer Frage an, doch er unterbricht mich.„Er hat nicht auf seine Umgebung geachtet. Sowas kann ihm im Krieg das Leben kosten",sagt er leise. Ich sehe auf den am Boden liegenden Kevin hinab. Wenn er so bewusstlos daliegt, könnte man meinen, er sei ein lieber Junge von neben an.A-Hörnchen wird gerade von Henrys Freunden verprügelt. Ich bin ja gegen Gewalt, aber bei manchen Menschen kann man nicht anders. Und A- Hörnchen hat es verdient.„Wir werden die Polizei verständigen", meint Andrej zu Henry. „Fahrt ihr schon mal ins Hotel."Während sich seine Freunde um meine Angreifer kümmern, steigen wir in die Limousine.„Woher wusstest du, dass ich angegriffen werde?", frage ich ihn. So müde ich doch bin, aber die Frage brennt mir auf der Seele.„Ich hatte Andrej zur Sicherheit dort gelassen, damit er sieht, ob du wirklich in die U- Bahnsteigst. Er hat uns dann sofort angerufen", erklärt mir Henry.Ich bin ihm dafür mehr als dankbar, aber ich finde es befremdlich, dass er mich beschatten ließ. Ich hoffe, es war das einzige Mal!„Danke, dass du mich gerettet hast", sage ich leise. „ Die beiden hätten mich erst ausgeraubt und dann abgestochen."Henry sieht mich mitleidig an. „Es tut mir so leid, Viktoria. Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen. Das kommt nie wieder vor, versprochen."Ich nicke. „Das ist nicht deine Schuld, Henry. Sie hätten jeden angegriffen. Wahrscheinlich brauchten sie Geld für ihre Drogen."„Mach dir darum keine Gedanken, die Polizei kümmert sich um sie. Ihr habt hier doch bestimmt auch Entzugskliniken."Sein Verständnis von der Welt möchte ich gern haben. Natürlich gibt es bei uns Entzugskliniken, Deutschland ist schließlich kein kleines Kaff!„Ihr in England und Amerika kennt euch damit ja bestens aus", stichele ich. Das konnte ich mir einfach nicht verkneifen.„Wir haben ja auch mehr Superstars, die dorthin müssen", kontert er gelassen. „ Wir sind da."Ich kämpfe mich müde und erschöpft durch das Foyer und versuche, möglichst nicht allzu abgefuckt auszusehen. Wie sieht man eigentlich aus, wenn man gerade angegriffen wurde?Ich bin bestimmt dreckig, meine Haare sind buschig und meine Hände blutig. Ganz normal also. Als ich das Bing des Fahrstuhls vernehme, bin ich unglaublich erleichtert. Hier bin ich in Sicherheit und kann auf einem traumhaften Bett schlafen.„Möchtest du noch duschen?" fragt Henry.Vielleicht sollte ich es tun, es wäre auf jeden Fall hygienischer.„Nein, danke. Heute nicht mehr", sage ich stattdessen.„Okay, dann werde ich gehen. Wenn du willst, kannst du in meinem Bett schlafen und ich nehme das Sofa", schlägt er vor.Ich nicke nur und falle dann angezogen ins Bett. Ich habe sowieso keinen Schlafanzug mit,deshalb brauche ich mich gar nicht erst ausziehen.Nebenbei bekomme ich mit, dass Andrej, Pete und Jake zurückkehren und Henry im Flüsterton von ihrer Mission erzählen. Möglicherweise trügt der Schein, aber mir kommt es so vor, als behandeln sie Henry wie ihren Boss. Sind sie etwa nicht seine Freunde?Ich beschließe, das Denken auf den nächsten Morgen zu verlegen und drehe mich herum. Das Bett schaukelt sanft unter mir und wiegt mich in den Schlaf.Ich bekomme nicht mit, wie Henry mich liebevoll beim Schlafen betrachtet und mir einen zarten Kuss auf die Stirn gibt, bevor er sich auf sein Sofa legt.Ich träume stattdessen von einem Prinzen auf einem weißen Pferd...   

Story of my Life - Ein englisches GeheimnisWhere stories live. Discover now