Ein Blitz im Kirchturm

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Als Max den Stromkasten hinter sich ließ und zum Bushäuschen stapfte, fiel ihm auf, wie wenig dort los war. Eine Gruppe Grundschüler stand im Kreis und schnatterte wild durcheinander. Außer den Kindern waren noch zwei Mütter dort, die ihn aber völlig ignorierten. Max bekam einen kleinen Schreck, denn es war keiner seiner Klassenkameraden an der Haltestelle, sodass er zuerst dachte, er hätte sich in der Uhrzeit geirrt.

Als er hektisch sein Handy mit dem Spinnennetz-Display hervorholte und darauf die Uhrzeit ablas, überkam ihn die Ernüchterung, dass er doch zur richtigen Zeit an der Haltestelle stand. Wieder dachte er kurz daran, einfach absichtlich die Klassenfahrt zu verpassen. Denn dass er allein an der Bushaltestelle war, konnte schließlich nur eines bedeuten: Alle seine Klassenkameraden wurden mit ihren schweren Gepäckstücken persönlich von ihren Eltern zur Schule gebracht. Nur er nicht. Sein Vater war schon um vier Uhr morgens aus dem Haus gegangen, denn auch er musste heute beruflich auf Reisen gehen. Seine Mutter hatte zwar mit ihm gefrühstückt, doch war auch sie bereits in Eile und musste zur Arbeit. Max seufzte tief, aber er konnte es nicht ändern, dass er im Ranking der wichtigsten Dinge im Leben seiner Eltern nur irgendwo ganz hinten stand.

Der Bus bog um die Ecke, hielt und Max stieg ein. Er saß allein. Sein einziger Gefährte war sein Reisekoffer, der auf dem Platz neben ihm saß. Max wischte über sein kaputtes Handydisplay, stellte die Musik an, setzte sich die Ohrhörer ein und versuchte, seine Angst und seine schlimmen Befürchtungen zu ersticken.

Von seinem Dorf bis in die Kleinstadt, in der er zur Schule ging, dauerte die Fahrt etwa zwanzig Minuten. Der Bus erreichte schließlich den Parkplatz vor der Schule und Max sah dort bereits den großen, weißen Reisebus stehen, mit dem er auf die Klassenfahrt fahren würde. Er stieg aus, atmete noch einmal tief durch und ging mit seinem Koffer auf ihn zu. Viele seiner Klassenkameraden waren gerade dabei, ihr Gepäck in den Laderaum zu verfrachten oder sich von ihren Eltern zu verabschieden.

Auch Frau Lehmann und Herr Arnold, ihr Sport- und Geschichtslehrer, waren bereits da. Max war einer der wenigen, die nicht gejubelt hatten, als ihnen Frau Lehmann mitteilte, wer der zweite Betreuer auf der Fahrt sein würde. Er mochte Herrn Arnold nicht, und das beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit. Der hochgewachsene, gutaussehende Kerl mit Dreitagebart und Pferdeschwanz war nur bei den angesagten Schülern beliebt, die auch immer gleich zu seinen eigenen Lieblingen avancierten. Im Unterricht nahm er auch nur diese Lieblinge dran und übersah dabei alle anderen Schüler, die wie Max nicht immer sofort bei jeder seiner Fragen mit dem Finger hochschnellten. Ihn nahm Arnold nur dann dran, wenn er dachte, dass Max gerade einmal nicht aufgepasst hatte oder wenn er sich sicher schien, dass Max die Antwort nicht wusste.

Doch zuallererst sah Max natürlich Marie. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Doch sie beachtete ihn nicht. Frau Lehmann, die Klassenlehrerin, begrüßte ihn stattdessen:

„Hallo Max! Na, Freust du dich schon auf die Klassenfahrt?"

„Guten Morgen, Frau Lehmann", antwortete Max und zuckte mit den Schultern.

„Na ja, wir werden sehen..."

Frau Lehmann lachte, wuschelte ihm durch die Haare und ließ ihn sein Gepäck verstauen.

Gottseidank hat sie mich nicht nach meiner Lippe gefragt.

Als er um den Bus herum ging, sah Max wieder zu Marie herüber. Sie verabschiedete sich gerade von ihrer Mutter, die trotz ihres Alters fast genau so hübsch wie ihre Tochter war. Max nutzte die Gelegenheit und stieg von Marie unbemerkt in den Bus. Er wanderte ganz nach hinten durch, denn er hatte Tim und Cord entdeckt, die dort bereits Platz genommen hatten.

„Hallo, Leute", rief Max ihnen zu und nahm in der Reihe neben ihnen Platz.

Bei ihnen würde er erst einmal sicher sein.

Neue Alte Welt - Die Weißen Steine, Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt