Der Vogel

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1.

Wieder steht er einsam da, einfach nur da. An der Ecke eines unbekannten Hauses. Völlig egal welches, es ist jedes Haus und Keines.

Der Mann ist nicht groß oder klein, weder jung noch alt. Und er steht immer dort, einsam.

Ich weiß nicht ob er einsam ist, aber so steht er jedenfalls da, deshalb sage ich es.

Jeder geht an ihm vorbei, ich tue es auch. Nichts lässt einen innehalten. Er verschwindet aus meinem Blickfeld und aus meinen Gedanken.

2.

An einem nächsten Tag steht er plötzlich da und es ist anders. Die Einsamkeit fehlt. Er ist nicht mehr einsam. Es bedarf eines zweiten Blickes, also bleibe ich stehen.

Auf seiner Schulter sitzt ein kleiner Vogel.

Der Mann kommt lächelnd auf mich zu. Er ist bestimmt älter als ich, vielleicht so alt wie mein Vater. Er ist sehr klein und der Vogel bleibt auf seiner Schulter sitzen und schaut mich mit kleinen Vogelaugen an.

Für etwas Vogelfutter gebe ich ihm Geld aus meiner Tasche und gehe dann meinen Weg weiter.

3.

Am folgenden Tag steht der Mann in einem kleinen Grüppchen von Leuten. Sie alle sind stehen geblieben. Der Vogel sitzt auf der Schulter des Mannes und schaut sich mit kleinen Vogelaugen um.

Einige der Leute gehen weiter. Neue bleiben stehen. Manche schauen sich den Vogel an, andere sprechen ein wenig mit dem Mann.

Die Hausecke ist jetzt leer.

Auch die kommenden Tage bleibt die Hausecke verlassen. Aber der Mann mit dem Vogel auf der Schulter geht die Strasse hinauf und hinab. Er geht langsam und manchmal ein wenig zittrig. Seine Bewegungen wirken abgenutzt und auch scheu. Aber hin und wieder bleibt er stehen und unterhält sich ein wenig mit Leuten.

Dann bleibt er auch bei mir stehen.

„Heute ist ein guter Tag, nicht wahr?" Seine Frage ist eine vorsichtige Aussage. Beinahe eine Feststellung. Die Stimme hat einen warmen Klang. Gerne würde ich stehen bleiben, aber ich hab noch ein langes Stück zu gehen.

4.

Der Mann ist immer da. Ich sehe ihn wie er Musik macht oder auf einer Bank sitzt. Seine Schultern haben sich gehoben. Mit ihnen der kleine Vogel. Der Mann lächelt den Leuten zu die vorbeigehen. Viele lächeln zurück. Es ist einfach dem Mann zuzulächeln. Er ist offen und freundlich. Er redet mit einem über den Tag und das Wetter. Wie man sich fühlt oder was man vorhat. Fast immer sitzt jemand neben ihm auf der Bank, steht vor ihm wenn er Musik macht. Die Hausecke ist vergessen.

Manchmal hüpft der Vogel nun von Schulter zu Schulter. Einmal sah ich ihn vor den Füssen des Mannes am Boden stehen und zu ihm hinaufschauen. Der Mann bückte sich schnell und lies den Vogel wieder auf seinen Arm springen. Es sah erst so aus als ob er etwas Verlorenes suchen würde.

5.

Wenn ich den Mann nicht sofort sehe gehe ich etwas langsamer. Ich möchtegerne ein Lächeln von ihm haben. Es macht mich glücklicher für den Tag. Meist bekomme ich Eins. Nur selten habe ich die Strecke an ihm vorbei zurückgelegt bevor er sich einmal umdreht. Dann verpasse ich sein Lächeln.

Dann sehe ich von weitem zu ihm herüber und beobachte wie der kleine Vogel auf seiner Schulter sitzt. Und lächele dem Mann ungesehen zu bevor ich weiter meinen Weg gehe.

6.

Musik kommt mir entgegen wenn ich die Strasse lang gehe. Der Mann spielt. Er spiel gut. Es fällt jedem schwer einfach vorbei zu gehen, denn die Musik ist wunderschön. Der Mann hat ein glückliches Gesicht wenn er spielt. Nur gelegentlich stockt er, wenn der Vogel plötzlich anfängt mit den Flügeln zu schlagen. Dann streicht er kurz mit der Hand über ihn und unterbricht dabei sein Spiel.

Auch ich bleibe stehen und höre verträumt zu. Es berührt mich und ist besser als das Lächeln.

7.

An diesem Tag sind keine Leute bei dem Mann. Der Mann hält den Vogel sacht in beiden Händen und kann darum nicht spielen. Er lächelt mir zaghaft zu. Ich gehe kurz zu ihm und streichele dem Vogel über den Kopf. Dann muss ich wieder los.

„Heute ist ein schöner Tag!" Höre ich ihn sagen. Ich lächele ihm zu und nicke zum Abschied.


8.

Der Tag ist kalt. Ich warte auf den Mann. Meine Augen suchen ihn auf der Strasse. Ich finde nichts. Zögernd setzte ich meine Füsse vorwärts.

In einer Häuserecke steht er. Einsam wie vorher. Nicht alt oder jung,nicht groß oder klein. Seine Schultern hängen herab.

Sie sagen er hat den Vogel zu fest gehalten.

Mein Blick geht über ihn hinweg. Mein Weg führt mich weiter.



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⏰ Letzte Aktualisierung: May 20, 2016 ⏰

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