Die letzten Strahlen des schwindenden Tages brachen durch die Wand aus Nebel und verwandelten den Wald in ein Lichterspiel aus Rotorange und Violett. Ein warmer Wind blies und streichelte Marie mit dem Sprühregen. Wenn sie früher im Wald spazieren ging, hätte sie dies alles sicher verzaubert. Doch nicht heute. Marie hatte Angst. Aber nicht eine Sorte Angst, die ein fünfzehnjähriges Mädchen sonst vielleicht hätte: Angst vor der bevorstehenden Klassenarbeit, Angst vor dem Date mit einem Jungen, den sie süß fand oder Angst, allein auf eine Party zu gehen, wo einen kaum jemand kannte. Solche Ängste hätte Marie, wenn sie einen klaren Gedanken hätte fassen können, nun sicherlich als albern und kindisch bezeichnet. Jetzt wusste sie, was Angst eigentlich war.
Die Luft, die sie atmete, roch herrlich sauber und frisch, doch sie drang zu heftig in ihre Lungen, als dass Marie es genießen konnte. Sie rannte. Ihre neuen weißen Turnschuhe platschten im schnellen Takt durch Matsch und Pfützen. Das Wasser hatte keine Schwierigkeiten, einen Weg hineinzufinden und ihre Füße genauso aufzuweichen wie den Waldboden.
Wenigstens bin ich nicht allein.
Plötzlich platschte es. Marie wagte es, ihren Lauf zu unterbrechen, fuhr herum und erkannte erleichtert, dass es bloß Hannah war, als sie bäuchlings in eine Pfütze gefallen war. Marie lief zu ihrer Freundin zurück, um ihr aufzuhelfen. Lea erreichte sie aber schneller und zog Hannah wieder auf die Beine.
„Los, weiter!", zischte Lea keuchend. „Nicht stehenbleiben!"
In Hannahs Gesicht klebten rotbrauner Matsch und die nackte Panik, als sie sich wieder in Bewegung setzte, und auch Lea sah kaum besser aus. Beim Anblick ihrer Freundinnen zog sich Maries Magen zusammen. Sie rannten weiter.
Ein weiteres Geräusch, ein Brüllen, das durch den ganzen Wald hallte, hätte nun Marie beinahe stürzen lassen, als sie wie im Rausch ihre Schritte zu eilig gesetzt hatte. Ihr Herz raste, als sich die Angst wie die Hand eines Riesen um ihre Kehle legte. Der Schrecken, zu dem das Brüllen gehörte, war ihnen auf den Fersen. Und obwohl es so klang, als wäre er weit entfernt, erschien er Marie noch viel zu nah
Wo sind bloß die anderen? Ob sie es geschafft haben? Oder sind sie alle schon längst tot?
***
Anna-Luisas Gitarre verstummte. Niemand wagte es, zu sprechen. Eine gespenstische Stille herrschte, und wie gebannt starrten sie alle aus dem Fenster. Marie saß auf der falschen Seite des Busses und konnte kaum etwas erkennen. Doch so, wie sich die Mitschüler verhielten, die ihr gegenüber saßen, musste dort draußen etwas sein, das spannend und fürchterlich zugleich war. Durch die beschlagene Scheibe konnte Marie nur einen kurzen Blick erhaschen. Alles, was sie erkennen konnte, waren ein langer, struppiger Schwanz mit heller Spitze.
Sekunden vergingen wie Minuten. Zwei weitere Tiere waren aufgetaucht und das Trio befand sich nun offenbar in der Nähe der Araukarie, dort wo sie den toten Busfahrer begraben hatten. Marie sah, wie die Schüler weiter vorne sich plötzlich abwandten. Auch wenn sie es selbst nicht erkennen konnte, musste etwas Grässliches gerade vor sich gehen, denn Vanessa presste die Hände vors Gesicht, so als würde sie sich gleich übergeben, und als Marie den entsetzten Blick von Michael sah, wurde ihr angst und bange.
Ein Krachen. Ein Platschen. Und dann ein grausiges Schnaufen ließen die Köpfe ihrer Mitschüler herumfahren. Marie sah etwas, was sie dazu brachte, an ihrem Verstand zu zweifeln. Ein Dinosaurier stapfte am Bus vorbei und gesellte sich zu den drei kleineren Tieren. Marie stockte der Atem bei seinem Anblick. Es war ein riesiges Biest mit einem langgestreckten, sicher mehr als acht Meter langem Körper und einem gewaltigen Maul mit dolchartigen Zähnen, das es nun aufriss, um ein eigenartiges Geräusch auszustoßen, wobei es seine dolchartig gekrümmten Zähne zeigte. Es klang fast wie ein Bellen, nur viel heiserer und rauer, und es hallte derart laut durch den Regen, dass Maries Armhaare sich aufstellten. Wie gebannt folgten ihre Augen dem riesigen Tier, bis es ebenfalls an der Busfront angekommen war. Was es dort tat, konnte sie nicht sehen. Aber hören! Die Dinosaurier stapften durch den Schlamm, grollten, zischten und fauchten.
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Neue Alte Welt - Die Weißen Steine, Band I
AventuraIn Panik flieht Moritz durch den Wald. Er wird gejagt, spürt bereits den heißen Atem des Todes in seinem Nacken. Ein Ungeheuer aus längst vergangenen Zeiten ist ihm auf den Fersen, ihm und seiner ganzen Klasse, mit denen er sich eigentlich auf eine...