Kapitel 24

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Gerade als ich alle Gläser verstaut und an ihre richtigen Plätze gestellt hatte, schwang die Eingangstür zur Gaststätte auf. Eine gedrungene Gestalt kam herein und setzte sich wortlos an einen Tisch in der hintersten Ecke des Lokals. Unschlüssig, was ich machen sollte, schaute ich den Mann an. Er trug trotz der Hitze eine dunkle Jacke, deren Kapuze er aufgesetzt und sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Darunter lugte eine mausbraune Haarsträhne hervor. Ich wusste nicht, wer derjenige war, der nur wenige Meter von mir entfernt saß. Der Mann hatte die Schultern hochgezogen und schien sich dazwischen verstecken zu wollen, so zusammengesunken und kraftlos wirkte er. Die ausgewaschene Jeans war an einigen Stellen eingerissen und schmutzig und ich rümpfte die Nase. Nicht, weil er einen schlechten Geruch mit sich brachte, sondern weil mir solche ungepflegten Menschen auf Anhieb nicht sehr sympathisch waren. Zwar hatte ich den Fremden noch nicht genau genug betrachtet, aber er machte einen etwas verwahrlosten Eindruck, sodass man beinahe Mitleid bekam.
Unsicher kaute ich auf meiner Lippe herum. Ich wusste nicht einmal, ob der Mann mich tatsächlich bemerkt hatte. Zwar hatte er die ganze Zeit den Kopf gesenkt gehalten, doch eine Bewegung konnte man auch aus den Augenwinkeln erfassen. Mit vorsichtigen Schritten schlich ich zur Küchentür, wo Uwe und Tristan gerade dabei waren, Salat zu waschen und Geschirr aus der großen Spülmaschine auszuräumen.
"Ich bin jetzt fertig", sagte ich und die beiden blickten mich im selben Moment an. "Aber da ist jemand gekommen und ich habe keine Ahnung, wer das ist."
"Danke für deine Hilfe, Isa", meinte Uwe und nickte mir freundlich zu. "Das wird wahrscheinlich Volker sein."
Angestrengt versuchte ich, mich an jemanden namens Volker zu erinnern. Doch ich konnte dem Namen kein Gesicht zuordnen. Auch nicht, als Uwe die Küche verlassen hatte und ich nun an seiner Stelle die sauberen Teller aus der Spülmaschine nahm. Aber einen guten, ersten Eindruck hatte Volker bei mir nicht hinterlassen.
"Wer ist dieser Volker denn?", fragte ich Tristan, der gerade die Salatblätter aus der Schüssel nahm.
"Er kommt jeden Tag hier her, um abends noch etwas zu trinken. Wobei etwas eigentlich untertrieben ist", antwortete er und drehte sich kurz zu mir um. "Betrinken trifft es wahrscheinlich besser."
Wissend nickte ich. An der Art, wie Volker gegangen war und anhand seiner Körperhaltung hätte ich das selbst vermuten können. "Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn schon einmal getroffen zu haben."
"Das möchtest du vermutlich auch nicht", gab Tristan zurück. "Bisher habe ich ihn nur zwei Mal in vollkommen nüchternem Zustand gesehen. Damals ist er beinahe ausgerastet, weil er keinen Alkohol intus hatte und jemand einen Witz über ihn gerissen hat. Normalerweise wäre ihm das egal gewesen, aber zu diesem Zeitpunkt war er sowieso schon übel gelaunt und das hat wohl das Fass zum Überlaufen gebracht."
"Wo wohnt er denn?" Vorsichtig begann ich, die Tellerstapel zum anderen Ende des Raumes zu balancieren, um sie im Geschirrschrank zu verstauen.
"Da muss ich leider passen. In meinen Augen scheint er überall und gleichzeitig nirgendwo zu wohnen. Wenn ich ihm tagsüber begegne, lungert er meistens irgendwo herum und nachts irrt er manchmal durch die Gegend und führt Selbstgespräche", meinte Tristan und ich runzelte die Stirn. Volker zählte meines Verständnisses nach also zu den Menschen, die versuchten, ihre Probleme und Sorgen im Alkohol zu ertränken und nun nicht mehr davon loskamen.
"Aber irgendwo muss er doch wohnen. Hier im Dorf fällt es sicher auf, wenn jemand jeden Tag auf einer Bank schläft", überlegte ich. Das Gewicht der Teller schien meinen gesamten Körper nach unten ziehen zu wollen und ich hatte Mühe, sie wieder auf die Theke zu stellen.
"Keine Ahnung", sagte Tristan. "Wirklich viel weiß ich nicht über ihn. Aber er war mit Uwe zusammen in einer Klasse."
"Moment", unterbrach ich ihn, als er zu einem neuen Satz ansetzen wollte. Im Kopf ließ ich noch einmal das Gespräch zwischen David und mir Revue passieren und rief mir alle Namen wieder ins Gedächtnis, die er genannt hatte. Meine Mutter, Pauline, David, Uwe, Bernd, Carmen, Merle und Thorsten. Aus diesen Leuten hatte die Dorfclique bestanden. Doch wieso hatte David Volker nicht erwähnt? War dieser etwa nicht mit ihnen befreundet gewesen, obwohl er im selben Ort gewohnt hatte und mit ihnen in dieselbe Klasse gegangen war? Ein Außenseiter also.
"Kennt dein Gastvater Volker gut?", fragte ich nach.
Tristan überlegte einen Moment. "Freunde sind sie jedenfalls nicht. Und Uwe beschwert sich manchmal über Volkers Trinkerei, weil er ihn schon ein paar Mal wegen Herumpöbelns hinausschmeißen musste."
"Weißt du, ob Volker sich früher mit meiner Mutter oder den anderen Gleichaltrigen verstanden hat? Als David mir die Mitglieder der Dorfclique aufgezählt hat, war Volker nämlich nicht unter ihnen."
"Ich finde, er wirkt eher wie ein Einzelgänger und wenn David ihn nicht genannt hat, wird er wohl auch nicht viel Kontakt mit ihm gehabt haben", antwortete Tristan.
Vorsichtig stellte ich die Teller in den Schrank. "Aber war das immer so? Oder ist vielleicht etwas vorgefallen, das ihn dazu gebracht hat, sich von der Gruppe abzusondern?"
"Da musst du Uwe fragen, über Volker weiß ich kaum etwas", erwiderte er und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. "Doch falls etwas passiert sein sollte, könnte er ebenfalls verdächtig sein."
Zustimmend nickte ich und lehnte mich gegen die Theke. Hatte Volker tatsächlich einen triftigen Grund, die Tochter seiner Mitschülerin umzubringen?
"Gleich müsste der Koch kommen, dann sind wir hier fertig", meinte Tristan, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte.
Während wir darauf warteten, dass der Koch erschien, dachte ich weiter über Volker nach. Es gab hunderte Möglichkeiten, wieso er nicht zu der Dorfclique gehört haben könnte. Doch ob eine davon stimmte und ihn zu einem potentiellen Mörder machte, konnte ich nicht abschätzen. Die einzige Möglichkeit, um das herauszufinden, war, ihn selbst zu fragen.
Als der Koch schließlich kam und sich mir mit einem südländisch klingenden Namen vorstellte, den ich jedoch schon nach einer Minute vergessen hatte, saß ich bereits auf glühenden Kohlen. Auch wenn dieser Volker gerne einen über den Durst trank und ich ihn nicht kannte, musste ich ihn irgendwie dazu bewegen, mir von seiner Jugend zu erzählen. Je nüchterner, desto besser.
"Ich muss unbedingt mit ihm reden", flüsterte ich Tristan zu, nachdem wir die Küche verlassen hatten und deutete mit dem Kopf in Volkers Richtung. Dieser saß noch immer am selben Platz und hatte inzwischen ein halb leeres Glas Bier vor sich. Uwe stand hinter der Theke und polierte Gläser.
"Warum?", erwiderte Tristan ebenso leise. Fragend schaute er mich an und ich verdrehte die Augen.
"Um ihn nach der Clique und allgemein seiner Jugend zu fragen. Vielleicht erfahren wir ja noch etwas Interessantes", sagte ich und spürte Uwes Blick auf mir ruhen.
"Und du denkst, dass er dir eine ehrliche Antwort gib?" Tristans Stimme klang pessimistisch.
"Warum nicht?", entgegnete ich.
"Er ist den halben Tag lang betrunken. Glaubst du wirklich, dass er alles genau ausführen würde?", stellte er klar.
"Das mag ja sein, aber zumindest einen Versuch ist es wert." Ich warf Tristan noch ein kurzes Lächeln zu, bevor ich zu Volkers Tisch ging und mich ungefragt neben ihn setzte.
Dieser schien mich ein paar Momente lang gar nicht zu bemerken, sondern nahm mich erst richtig wahr, als Tristan sich mit einem lauten Stuhlrücken zu uns gesellte. Zuerst schaute Volker zu Tristan hinüber, dann sah er mich an. In seine vom Wetter gegerbte Haut hatten sich längst Falten eingegraben und eine helle Narbe zierte seine Wange. Seine graublauen Augen wirkten etwas glasig. Nüchtern war er mit Sicherheit nicht mehr. Und doch schien mich sein Blick zu durchbohren.
Aber ich versuchte, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen und setzte einen freundlichen Gesichtsausdruck auf. "Hallo, ich bin Isabelle."
Gleich darauf wurde mir klar, dass dies nicht unbedingt der beste Weg war, ein Gespräch zu beginnen, denn Volker brummte unfreundlich: "Und was geht mich das an?" Er trank einen Schluck Bier und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
Ich biss mir auf die Lippe und schaute hilflos zu Tristan hinüber, weil mir nichts einfiel, was ich erwidern konnte. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern. Anscheinend wusste er auch keine Antwort.
"Hab dich hier noch nie gesehen, Kleine", meinte Volker und wandte sich von mir ab, ehe ich etwas sagen konnte.
Plötzlich wurde die Tür zur Gaststätte geöffnet und eine Gruppe älterer Menschen kam herein. Sie mussten alle um die sechzig bis siebzig Jahre alt sein und sofort war der Raum von lautem Lachen erfüllt. Alle unterhielten sich in einer Lautstärke, dass ich mir fast Sorgen darum machte, mein eigenes Wort nicht mehr verstehen zu können.
"Ich komme nicht von hier", meinte ich und hob meine Stimme, sodass Tristan und Volker mich gut hören konnten.
"Und was willst du dann von mir?", knurrte Volker. Seine dichten, dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen.
Meine Hände fühlten sich schwitzig an, als ich sie im Schoß zusammenfaltete. "Ich bin Yvonnes Tochter."
Das musste Volker erst einmal sacken lassen. Bei diesem Satz hatten sich seine Augen etwas geweitet und er drehte sich nun langsam zu mir um. Sein Blick war nun klarer und es wirkte, als sei der Dorfbewohner plötzlich nüchtern.
"Du bist Yvonnes Tochter?", fragte er und sein Unterkiefer klappte nach unten.
"Ja."
"Das kann nicht sein." Er rieb sich über die Augen und musterte mich ungläubig. Beinahe kam es mir so vor, als würde er mich für eine Außerirdische halten, so genau betrachtete er mich.
Es war mir unangenehm, dass er mich anstarrte und ich verschränkte schützend die Arme. Aber zumindest hatten meine Worte etwas bei ihm ausgelöst, das ihn aufhorchen ließ. Und nun hatte ich definitiv seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
"Die ist doch tot", sagte Volker und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich dachte er gerade, er könne seinen eigenen Augen nicht trauen.
"Meine ältere Schwester ist tot, aber ich bin erst geboren worden, nachdem sie verschwunden war", antwortete ich und warf einen schnellen Blick zu der Gruppe der Älteren hinüber, die gerade ihre Getränke bestellten. Solange sie da waren, würde uns kaum jemand bemerken oder belauschen.
In Volkers Gehirn schien es zu rattern und ich rechnete tatsächlich damit, dass sein Kopf jeden Moment zu rauchen begann. Er suchte anscheinend fieberhaft nach Erinnerungen in seinem Gedächtnis und ich hoffte, dass etwas Brauchbares dabei sein würde.
"Was willst du?", fragte er. Zwar klang es nicht unbedingt höflich, jedoch deutlich netter als zuvor. Irgendetwas hatten meine Worte in ihm bewirkt. Sobald ich meine Mutter erwähnt hatte, war er von einer Sekunde auf die nächste nicht mehr abweisend und uninteressiert.
"Nichts Besonderes. Ich habe nur ein paar Fragen", erwiderte ich.
Misstrauisch blickte er mich an. "Zu was?"
"Nur zur Jugend meiner Mutter. Und zum Mord an meiner Schwester."

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt