Kapitel 26

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Sofort drehten sich alle Köpfe zu uns um und ich konnte nichts tun, außer die überraschten, fassungslosen und schockierten Blicke der Leute zu erwidern. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an und ich brachte keinen Ton heraus.
Für einen Moment wurde es still im Raum. Sogar Volker hörte kurz auf zu lachen und niemand wagte es, sich zu bewegen. Ich saß da, als sei ich soeben zu einer Messingfigur gegossen worden, unfähig auch nur einen Finger zu heben. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und sämtliches Blut schien aus meinem Kopf zu weichen.
In mir wirbelten meine Gedanken wild durcheinander und ich versuchte gar nicht erst, einen davon einzufangen. Die Starre, die sich über meinen Körper gelegt hatte, hatte längst vollständig von mir Besitz ergriffen. Machtlos musste ich zusehen, wie die Dorfbewohner am anderen Tisch begannen, miteinander zu flüstern und dabei immer wieder zu uns hinübersahen. Volker lachte weiter und schüttelte den Kopf, als könne er gar nicht glauben, wie schwachsinnig unsere Idee doch war. Uwes Blick brannte Löcher in meine Haut.
"Eine winzige Unaufmerksamkeit könnte euch den Kopf kosten", hörte ich Christel sagen und erschauderte. War dies tatsächlich das, wovor sie mich eindringlich gewarnt hatte?
Wie in Trance schaute ich Tristan an. Seine blauen, weit aufgerissenen Augen fokussierten mich ausdruckslos und auch ihm war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Wir mussten wie Leichen aussehen, die einander anstierten, als hätte man sie hypnotisiert.
Die gedämpften Stimmen von dem anderen Tisch nahm ich nur halb wahr. Stattdessen ging mir immer und immer wieder Christels Satz durch den Kopf. Mit jeder Silbe fragte ich mich erneut, wieso ich Volker die ganze Wahrheit erzählt hatte und welche Auswirkungen das haben würde. Was, wenn Christel Recht behielt?
Tristan bewegte langsam die Lippen und ich beugte mich etwas nach vorne, um ihn verstehen zu können. "Das ist das Schlimmste, was uns hätte passieren können."
Voller Angst sah ich ihn an. "Und jetzt?"
Volker hatte noch immer nicht mit dem Lachen aufgehört. Er wusste nicht, was er mit diesem Satz angerichtet hatte.
Mir drehte sich der Magen um. Es war meine Schuld, dass er und die Leute nun wussten, wovon Tristan mit gutem Grund niemandem etwas erzählt hatte. Außer Christel und mir. Er hatte darauf vertraut, dass keiner von uns beiden sich verplappern würde und nun war es ausgerechnet mir passiert.
Meine Wangen färbten sich rot vor Scham und ich verspürte das dringende Bedürfnis, aufzustehen und wegzurennen. Einfach nur weg von diesem Albtraum, in dem ich mich gerade befand. "Das ist wirklich eine großartige Ferienbeschäftigung", meinte Volker und nahm einen weiteren Schluck Bier, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. "Eine tolle Vorstellung, vor allem wenn man bedenkt, dass die Kleine schon seit über 15 Jahren tot ist und das jetzt sowieso niemanden mehr interessiert."
Am liebsten hätte ich ihm gerne ins Gesicht gebrüllt, dass es Leute gab, die sich um Yasmin und ihren gewaltsamen Tod kümmerten und die die Hoffnung, den Mörder doch noch zu finden, nicht aufgegeben hatten. Aber ich hielt meinen Mund und funkelte ihn stattdessen wütend an. Dieses Gespräch hatte überhaupt nichts genutzt; ganz im Gegenteil: Es hatte alles schlimmer gemacht.
Ich fühlte mich dafür verantwortlich. Schließlich hatte ich unbedingt mit Volker reden und ihn nach meiner Mutter fragen wollen. Und der Leichtsinn, mit dem ich ihm von unserem Vorhaben erzählt hatte, ließ mein Inneres kochen. Die feinen Härchen an meinen Armen stellten sich auf, als mir klar wurde, dass sich die Neuigkeit innerhalb weniger Tage, vielleicht sogar Stunden, überall im Dorf herumgesprochen haben würde.
Christels Warnung ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wir mussten sehr vorsichtig vorgehen, wenn wir nicht in das Visier des Mörders geraten wollten. Alles hätte gutgehen können, wenn ich nicht in der falschen Sekunde etwas zu viel gesagt hätte. Würde Yasmins Mörder uns nun etwa auch im Visier haben?
Der Gedanke war zu Recht beängstigend und ich schlug die Augen nieder. Tristans Blick ruhte auf mir und je länger er mich anschaute, desto weiter breiteten sich die Schuldgefühle in mir aus.
Volker gab irgendetwas von sich, aber ich hörte ihm nicht zu. Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich alles dafür geben, um das Gespräch rückgängig zu machen. Ich hatte dadurch nichts wirklich Neues erfahren und unter Umständen sogar dafür gesorgt, dass der Mörder meiner Schwester nun tatsächlich auf uns aufmerksam wurde. Es fühlte sich abscheulich an, das Versagen.
Die Leute am anderen Tisch flüsterten noch immer miteinander und ich könnte meinen kleinen Finger darauf wetten, dass sie über Tristan und mich redeten. Völlig überflüssig zu erwähnen, dass sie oft zu uns hinübersahen und ihre Blicke mir schier die Haut verbrannten. Aber keiner wagte es, laut etwas zu sagen. Außer Volker, der weiterhin Dinge munter vor sich hersprach, den jedoch kaum jemand beachtete. Niemand nahm Notiz von ihm. Tristan und ich waren viel zu beschäftigt, unsere Sorgen, Ängste und vor allem unsere Wut zu ordnen. Und die Anderen tuschelten miteinander, ohne dass man ein Wort verstehen konnte. Volkers Aussage war definitiv auf fruchtbaren Boden gefallen und ich zweifelte nicht daran, dass bald alle Dorfbewohner über unser Vorhaben Bescheid wussten.
Vor meinem inneren Auge sah ich bereits mich selbst und einen dunklen Schatten, der mir überallhin folgte. Die Gestalt, die diesen Schatten warf, hatte sich eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und lauerte hinter jeder Hausecke. Yasmins Mörder, stets dazu bereit, noch einen weiteren Menschen zu töten. Oder vielleicht auch zwei.
Meine Hände tasteten nach dem Tischbein und umklammerten es wie einen Rettungsring. Doch obwohl ich mich dadurch etwas beruhigte, wurde mir dennoch schmerzlich bewusst, dass nichts und niemand uns aus dieser Lage befreien konnte. Dass wir dem Mörder schutzlos ausgeliefert waren.
Stumm schüttelte Tristan den Kopf und er sah so aus, als könne er noch immer nicht begreifen, dass ich Volker von der Suche nach Yasmins Mörder erzählt hatte. Sein ausdrucksloser Blick war auf den Tisch gerichtet, die Hände hatte er ineinander verschlungen. Wir beide wirkten wahrscheinlich wie ein Häufchen Elend.
Die Luft hier kam mir unerträglich stickig vor und ich konnte das Misstrauen der Dorfbewohner fast schon auf der Zunge schmecken. Sie hatten nicht aufgehört, miteinander zu reden. Wenn ich zu ihnen hinüberschaute, wurde mir beinahe schlecht. Keiner von ihnen würde Volkers Worte für sich behalten; bald würden sie in aller Munde sein.
Was würde Oma wohl davon halten? Und was, wenn meine Mutter davon erfuhr? Wahrscheinlich wären beide am Boden zerstört und ich müsste sofort nach Hause fahren.
Ich presste krampfhaft die Füße in den Boden. Am liebsten würde ich sofort darin versinken und nie wieder auftauchen.
Für Tristan war alles bestimmt mindestens genauso schlimm. Schließlich hatte Uwe auch gehört, was Volker da soeben herausposaunt hatte und als ich kurz zu dem Wirt hinüberblickte, sprach aus dessen Gesicht nicht gerade Begeisterung. Er schien eher blass geworden zu sein und vermied es, jemanden anzusehen.
Ich könnte Volker dafür verfluchen, dass er diese Information nicht für sich hatte behalten können. Von den Folgen, die das hatte, ahnte er vermutlich nichts, ebenso von der Situation, in die er uns gebracht hatte.
Gerne hätte ich nach seinem Schnapsglas gegriffen und mir von dem Alkohol die Sinne vernebeln lassen. Hauptsache, die Gedanken rückten für einen Moment in den Hintergrund.
Volker rief noch etwas aus und ich hätte ihm am liebsten einen Klebestreifen über den Mund geklebt. Denn Reden war bekanntlich Silber und Schweigen war Gold. Doch Gold konnte man nicht mit Menschenleben aufwiegen.
Für einen Augenblick schnürte mir die Angst, dass uns tatsächlich jemand etwas antun könnte, die Kehle zu. Dann hätte ich gerade nicht nur mein Leben, sondern auch das von Tristan in Gefahr gebracht.
Plötzlich stand Tristan auf. "War nett, mit dir zu reden, Volker", presste er hervor und ich erhob mich ebenfalls.
Mehr als ein Nicken hatte ich für den angetrunkenen Mann allerdings nicht übrig. Nicht nur, weil ich wahrscheinlich keinen einzigen Ton herausbringen würde, sondern auch, da ich mit meinen eigenen Gefühlen kämpfte, die sich in mir aufstauten.
Zum einen die Wut auf Volker und mich selbst, aber auch die Furcht vor den Konsequenzen. Die Vorwürfe, die ich mir selbst machte, verbesserten das alles nicht unbedingt.
Automatisch folgte ich Tristan aus dem Raum hinaus, die stechenden Blicke der anderen Gäste im Rücken. Schweigend stieg ich hinter ihm die Treppenstufen zu seinem Zimmer hinauf. Die Stille, die zwischen uns herrschte, drückte mich mit jedem Schritt weiter zu Boden. Meine Hände waren eiskalt, als ich damit meine eigenen Schultern umschlang.
Mit einem leisen Geräusch schloss Tristan die Tür zu seinem Zimmer und setzte sich auf den Boden. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, aber ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich hatte versehentlich dafür gesorgt, dass wir nun in dieser Lage steckten.
Wie gern hätte ich meine Mutter bei mir, die mich in den Arm nahm und mich damit von allen grässlichen Gefühlen befreien konnte. Hilflos sah ich Tristan an, der sich nicht regte. Nur unser Atem und die leisen Geräusche von unten aus der Gaststätte waren zu hören. Diskutierte man dort noch immer über uns? Oder waren einige Dorfbewohner schon gegangen, um ihre Nachbarn und Freunde über uns in Kenntnis zu setzen?
Langsam drehte sich Tristan in meine Richtung und warf mir einen Blick zu, den ich nicht richtig deuten konnte. Seine blauen Augen stachen aus dem blassen Gesicht hervor und ließen mich unwillkürlich schlucken.
"Was jetzt?", flüsterte ich.

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