Völlig außer Atem machte ich eine Pause und setzte mich an den Wegesrand. In meinem Kopf war es leer. Trotzdem versuchte ich mich daran zu erinnern, was eben geschehen war.
Ich war weg gerannt von ihm, wollte einfach nur weg, nach Hause.
Warum war ich weg gerannt?
Ich wusste es nicht und doch konnte ich nicht anders. Und es schien für den Moment das Richtige zu sein. Etwas hatte mir Angst gemacht.*
Dabei hatte ich doch so lange darauf gewartet! Mit 10 lernte ich Tobi und seine Eltern kennen.Mindestens einmal in der Woche sahen wir uns, da unsere Eltern Mitglieder einer Freikirche waren und wir regelmäßig den Gottesdienst besuchten.
Schon seit meinem elften Lebensjahr hatte ich Schmetterlinge im Bauch, wenn ich Tobi sah oder an ihn dachte.
Er schien mich auch zu mögen und mit 13 "gingen" wir dann miteinander.Doch seine Mutter kam zu mir und machte für ihn mit mir Schluss, weil sie der Ansicht war, wir wären noch zu jung für so etwas. Das hatte mir das Herz zerissen damals. Und ich empfand es als Gemeinheit und Frechheit, dass sie sich da eingemischt hatte. Auch wenn sie seine Mutter war, war es nicht ihre Aufgabe zu mir zu kommen und sich zwischen die Beziehung zu stellen. Ich war am Boden zerstört, völlig verzweifelt und maßlos enttäuscht.
Meine Mutter, die gute Seele, hatte mir am Tag der Trennung duftenden Badezusatz gekauft und erstmal ein warmes Bad zum Entspannen verordnet. Es nahm zwar nicht den Schmerz, aber für den Moment tat so ein Bad richtig gut!
Die Zeit verging und trotz des Verbotes "Zusammen" zu sein, blieben Tobi und ich weiterhin wenigstens Freunde.
Etwa mit 15 Jahren bildeten wir zusammen mit drei anderen Jugendlichen eine eingeschworene Clique. Wir waren ein lustiger Haufen verrückter, lauter Teenager: 2 Mädels und drei Jungs. Und wir hatten stets Spaß und eine Menge Albernheiten im Kopf. Wir, das waren Tobi, Chris, Malte, Lea und ich.
Oft übernachteten wir im Gemeindehaus, kochten und aßen gemeinsam und unternahmen nächtliche Wanderungen auf eine nahe gelegene Burgruine. Dort redeten wir viel und genossen einfach die Gemeinschaft.Ich war immer noch in Tobi verknallt. Doch zu meinem Ärger kam er mit einer Freundin von Lea zusammen, die sie des öfteren zu unseren Treffen mitgenommen hatte.
Ich war so eifersüchtig! Aber ich wollte es mir nicht anmerken lassen. Empfand er denn gar nichts mehr für mich? Hatte er sich vielleicht damals nicht getraut mit mir Schluss zu machen und hatte deshalb seine Mutter vor geschickt? Nein, dass konnte nicht sein, denn ich wusste, dass er sich damals für seine Mutter geschämt hatte.
Aber ich war doch immer noch da, wir waren sogar gute Freunde... ja etwas oberflächlich war es immer geblieben, so richtig tiefe Gespräche hatten wir bisher nie geführt. Aber wir waren in der Clique immer gemeinsam unterwegs gewesen. Da lernt man sich doch auch immer besser kennen!
Wir waren älter geworden und eine Liebesbeziehung wäre nun nicht mehr nur ein vorpubertäres Geplänkel. Das war mir klar. Vielleicht hatte ich mich auch deswegen nicht getraut ihn auf meine Gefühle für ihn aufmerksam zu machen. Und nun war es sowieso zu spät! Anscheinend empfand er nichts mehr für mich! Der Gedanke versetzte mir einen Stich ins Herz.
Ungern war ich nun mit der Clique unterwegs. Aber wenigstens hatte ich Lea. Sie machte mir es einigermaßen erträglich, Tobi mit seiner neuen Freundin zu sehen.
Doch aus irgendeinem Grund ging die Beziehung mit Tobi und seiner Freundin nach ein paar Monaten in die Brüche. Hoffnung kam in mir auf. Das war meine Chance! Natürlich musste ich vorsichtig sein. Wäre ja auch schön blöd von mir gewesen ihm meine Gefühle unmittelbar nach der Trennung zu offenbaren. Ich wollte warten, bis sich die Situation wieder entspannt hatte und Tobi vielleicht für eine neue Beziehung mit mir bereit war.
Also unternahm ich weiter nichts außer ihn heimlich anzuhimmeln und unsere Clique blieb bei den fünf Leuten, die regelmäßig etwas zusammen unternahmen.
Mit 16 Jahren fasste ich mir dann ein Herz und sagte ihm was ich für ihn empfand. Er gestand mir, dass es ihm auch so ging. Die Freude darüber ließ mein Herz bis zum Himmel schlagen und die Schmetterlinge in meinem Bauch machten Purzelbäume. Endlich hatte ich es geschafft! Tobi und ich, wir waren zusammen! Und jetzt waren wir auch alt genug. Nun konnte nicht mal Tobi's Mutter mehr etwas gegen unsere Beziehung sagen! Jedes Mal, wenn wir uns an die Hand fassten, kribbelte es in meinem ganzen Körper, wie wenn tausend Tausendfüßler und noch mehr auf ihm rumlaufen würden, so verliebt war ich!
Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen. Obwohl wir uns immer noch mit unseren Freunden trafen, verbrachten wir die meiste Zeit zu zweit. So wie das für ein verliebtes Pärchen üblich ist. Wir redeten und lachten viel. Ich übernachtete auch mal bei ihm und er besuchte mich. Und so langsam begannen wir uns auch körperlich näher zu kommen.
Anfangs blieb es beim Küssen und Händchen halten. Weiter zu gehen war in unseren Augen eigentlich auch nicht richtig, denn wir wussten das Petting oder sogar Geschlechtsverkehr nach unseren Vorstellungen und dem, was wir von unseren Eltern beigebracht bekommen hatten, in eine Ehe gehörte.
Trotzdem konnten wir aus Neugierde und jugendlichem Leichtsinn nicht die Hände voneinander lassen. Wir berührten und streichelten uns überall, aber Sex hatten wir nicht. Dazu war es nicht gekommen.
Denn plötzlich war mir alles zu viel geworden.Die körperliche Nähe war mir zuwider geworden, ich konnte Tobi nicht mal mehr riechen. Ich hatte Panik bekommen, ein beklemmendes Gefühl hatte mir die Kehle zugeschnürt. Meine Brust hatte sich angefühlt, als wenn hundert Sandsäcke darauf abgelegt worden wären und ich hatte ihm an eben diesem Tag plötzlich, einfach so aus dem Nichts, ins Gesicht gesagt, dass ich die Beziehung beenden möchte.
Dann wollte ich nur noch nach Hause. Gemeinsam mit Tobi und seinen Eltern war ich an diesem Morgen zum Gottesdienst gefahren, meine Eltern blieben Zuhause. Dummerweise hatte ich kein Handy dabei, um meine Mutter anzurufen und jemand Anderen fragen wollte ich nicht, denn ich hatte Angst mich erklären zu müssen. Also entschloss ich mich zu laufen. Ich wusste zwar nicht genau den Weg, aber den würde ich schon irgendwie finden. Denn jetzt wollte ich weg, einfach nur weg!
*Und jetzt saß ich hier am Wegesrand und versuchte meine Kurzschlussreaktion einer Ursache zuzuordnen. Wie konnte es sein, dass sich meine jahrelange Zuneigung zu Tobi innerhalb eines Wimpernschlags in Abneigung verwandelt hatte? Wieso hatte ich plötzlich so Angst bekommen? Weshalb waren mir seine Berührungen, seine Nähe auf einmal zuwider geworden? Was war es, das mich dazu getrieben hatte mit ihm Schluss zu machen und vor was um alles in der Welt rannte ich davon?
Ganz allmählich dämmerte es mir und eine leise Ahnung machte sich in mir breit. Es lag nicht an Tobi. Tobi war derselbe geblieben. Aber etwas, das ich bisher tief in mir verborgen gehalten hatte, war in mir aufgebrochen, und jetzt wusste ich auch, was es war. Eine Weile saß ich noch so da und schlurfte dann langsam die Landstraße entlang, die in Richtung nach Hause führen musste, tief in traurige Gedanken versunken.
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Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.
General FictionDie Geschichte handelt von der jungen Frau Sarah, die in ihrer Kindheit jahrelang von ihrem Großvater sexuell missbraucht wurde. Als Kind begreift sie zunächst gar nicht, was mit ihr geschieht. Doch nach und nach realisiert sie, dass das, was ihr Gr...