Kapitel 8

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Das erste, was ich am nächsten Morgen wahrnahm, war der kalte, harte Boden unter mir.
Ich drehte mich aus der ziemlich unbequemen Position, in der ich laut meinem versteiften Rücken die halbe Nacht verbracht hatte und bemerkte mit zugekniffenen Augen, dass ich mich in meinem Wohnzimmer, direkt neben dem Sofa befand und anscheinend herunter gefallen war.
Es fühlte sich an, als wäre ich mit meinem Kopf aufgekommen, so wie er dröhnte und zu platzen drohte.

Ich starrte eine Weile auf die umgefallene Bierflasche mit dem aufgeknibbelten Etikett und nahm sie in die Hand, um sie aufzustellen.
Ich zog mich mühsam auf die Beine, wickelte mir die Decke um die Schultern und schlurfte in die Küche, durchwühlte die Schränke nach der letzten Aspirin und ließ mich ebenfalls mit einem Glas Wasser aufs Sofa sinken. Ich starrte auf die sprudelnde, angenehm kalte Flüssigkeit in meinen Händen und rief mir nach und nach stichpunktartig die letzte Nacht in Erinnerung.
Wir waren auf Johannes' Geburtstag.
Kris wollte draußen mit mir reden.
Ich habe viel zu viel getrunken.
Kris ebenfalls.
Niels hat uns ein Taxi gerufen.
Plötzlich war es wieder da. Verschwommen und verschleiert, aber vorhanden. Vor meinem inneren Auge. Träumte ich?

In dem Moment hörte ich Kris' leises Husten aus dem Schlafzimmer. Ich schnellte herum, was meine Kopfschmerzen mir ganz und gar nicht dankten und mich wieder zusammensinken ließen.
Er hatte mich geküsst, völlig ohne dass ich etwas dazu beitragen musste. Mit voller Leidenschaft, Begierde und Lust hatte Kris mich geküsst. Seine weichen Lippen verharrten nur kurz auf meinen, ehe er in die Offensive ging und sie einen Spalt weit öffnete, der Kuss intensiver wurde und ich mich wenig später auf seinem Schoß und mit seinen Händen unkontrolliert durch meine Haare fahrend wiederfand.

Es war anders, als ich es mir vorgestellt und ausgemalt, ja, erträumt, hatte; wie oft ich mir vorgestellt hatte, wie es wohl wäre, seine Lippen synchron zu meinen zu spüren. Wie es sich anfühlen würde, ihn zu küssen. Seine Hände an meinem Hinterkopf zu spüren, unsere Körper sich zu einem verschmelzen zu lassen, mich von seiner Wärme überkommen zu lassen und nicht mehr zu denken, nur noch zu küssen, als wäre es das einzige, wofür wir hier waren.
Es war Irgendwie noch besser, doch auch falsch. Er war einfach viel zu betrunken gewesen, um auch nur eine Sekunde darüber nachdenken zu können, was er tat, so wie ich.

Ich wusste einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Einerseits konnte ich nicht anders, als in mich hinein zu schmunzeln, schließlich hatte Kris mich geküsst. Kris.
Doch andererseits wusste ich nicht, was das zu bedeuten hatte, weshalb er das überhaupt getan hatte, ob ich dafür bereit war und mir war irgendwie klar, dass ich verletzt werden würde. Er konnte nichts für mich empfinden.

Ich wurde von schnellen, gestolperten Schritten aus meinen verworrenen Gedanken gerissen, die mit einem lauten Knall der Badezimmertür verstummten und nun durch ein lautes Würgen und Husten ersetzt wurden.
Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen.
Kris war wach. Er würde gleich herkommen. Ganz ruhig.
Er hatte echt viel getrunken, vielleicht war es sogar möglich, dass er sich nicht mehr erinnern konnte.
Aber wollte ich das? Es wäre leichter, aber...

"Morgen"
Ich fuhr zu Kris herum, der sich nuschelnd durchs Gesicht wischte und kam nicht drumherum, meinen Blick nach unten fallen zu lassen. Er trug lediglich eine weit unten sitzende, hellblaue Boxershorts und in meinem Kopf herrschte Stille, als hätte ich verlernt, wie man denkt.

"Hast du 'ne Aspirin?"
Seine zugekniffenen Augen hinter ein paar dünnen Haarsträhnen, die ihm schlaff ins Gesicht fielen, sahen fragend in meine, ehe ich ihm mein Aspirin-Wasser-Gemisch hinhielt und er sich damit seufzend neben mir nieder ließ.
"Wie geht's dir?", fragte ich und versuchte standhaft, meinen Blick bei seinen Augen zu lassen. "Da fragst du noch?" Er lachte gequält und ließ sich etwas nach hinten fallen. "Ich werde zu alt für sowas." Ich grinste ebenfalls, sein Lachen war einfach ansteckend und irgendwie schadenfroh war ich auch ein wenig.
"Und dir?" - "Gut.", entgegnete ich monoton und knapp. Er nickte mit gesenktem Blick und nippte am sprudelnden Gemisch. Stille. Schwere, unangenehme Stille, in der so viel unausgesprochenes lag.
Bis Kris sie unsicher brach. "Weißt du alles von gestern?"
Ich traute mich nur zögernd in seine Augen zu sehen, in denen so viel Verwirrung und Scham lag, dass allein ein Blick hinein offenbarte, dass er sich an den Kuss erinnerte. Es half nichts, also nickte ich.

Er lachte peinlich berührt und kratzte sich am Hinterkopf, während er schulterzuckend begann, nur so drauf los zu reden. Kris eben.
"Ich... Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich war einfach Sternhagelvoll und habe in irgendeine komische Situation hinein interpretiert, in die man gar nichts interpretieren konnte, ich... Ich hatte einfach echt lang keine Freundin mehr." Er lachte erneut und ich lachte mit. Nicht, weil es lustig war, sondern bedrückend.
Als wir uns wieder gefangen hatten, sah er mir erneut, diesmal irgendwie flehend, in die Augen. "Wir sind uns beide einig, dass das nur ein einmaliges Experiment im Vollsuff unter Freunden war, oder?"

Moment mal, was?
Mein Inneres zog sich zusammen.
Er hatte mich doch geküsst, von sich aus. Und jetzt wollte er mir sagen, dass das keinerlei Grund hatte? Ein Experiment war?
Er sah mich fragend an und ich setzte ein Lächeln auf, was mich zu ersticken drohte.
"Klar doch."
Er atmete erleichtert aus, doch ich bildete mir ein, etwas in seinen Augen zusehen, was nicht im Bild der Erleichterung übereinstimmte.
"Gut, dann lass uns das vergessen."

Wie sollte ich das nur können, Kris?

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