Meine Mutter, Gott und ich

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Immer noch saß ich mit meiner Mutter zusammen auf dem Stuhl in meinem Zimmer und wir schwiegen gemeinsam. Inzwischen konnte ich nicht mehr weinen, alle Flüssigkeit meiner Augen schien verbraucht und mein Kopf fühlte sich nach dem Verlust von Millionen von Tränen schwer wie Blei an. 

Und doch war ich froh, dass meine Mutter jetzt bei mir war. Ich war so unglaublich dankbar für ihre Nähe und Anteilnahme. Plötzlich sagte sie zu mir: „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes liebende Arme, Sarah!" Nur diesen einen Satz hatte sie gesagt. Dieser Satz scheint vielleicht unangebracht für solch einen Moment zu sein, in dem es einfach keine passenden Worte zu sagen gibt. Und manch einer mag sagen: „Warum fängt sie jetzt von Gott an? Und welche liebenden Arme? Wenn es so etwas wie einen Gott gibt, wo war dieser Gott denn? Wären seine Arme liebend, so hätte er es doch niemals zulassen dürfen, dass dieses Mädchen von ihrem Großvater sexuell missbraucht wird!"

Zwar sind diese Fragen durchaus berechtigt, doch ich zweifelte, so seltsam es auch klingen mag, in diesem Moment der völligen Verzweiflung und des ohnmächtigen Schmerzes nicht an einem Gott. Von klein auf hatte ich daran geglaubt, dass es ihn gibt. Wohl glaubte ich an ihn mit kindlichem Verstand und aufgrund der vielen Geschichten, die ich in der Kirche und auch Zuhause gehört hatte, aber ein Zweifel an seiner Existenz war mir auch während der Zeit des sexuellen Missbrauchs nie gekommen. Auch hatte ich nie über einen scheinbar ungerechten Gott nachgedacht oder ihn aufgrund meiner Erfahrung verleugnet. Vermutlich lag das aber auch daran dass ich sehr jung war und sich noch kein tieferes Interesse an einer persönlichen Beziehung zu diesem Gott der Bibel gezeigt hatte.

Nun aber wirkten diese Worte, die mir meine Mutter eben erst ins Ohr geflüstert hatte, unglaublich tröstend und lebendig echt in meinem Herzen. Zum ersten Mal merkte ich am eigenen Leib, dass die Worte der Bibel einem Christen in den schlimmsten Situationen Halt bieten können. Dort in der Dunkelheit des Zimmers war es fast so, als wäre noch jemand im Zimmer, der diesen Worten Ausdruck und Bedeutung verlieh.

Auf die Worte meiner Mutter erwiderte ich nichts. Sie beschäftigten mich viel zu sehr, als dass ich etwas dazu hätte sagen können. 

Da erinnerte ich mich auf einmal an die eine Frage, die mir seit unserem Gespräch im Auto schon die ganze Zeit auf der Seele gebrannt hatte: " Mama, wie kamst du eigentlich im Auto darauf, zu fragen ob ich wegen Opa so schlecht drauf war? Ich hatte doch nie irgendetwas darüber gesagt und hatte das auch niemals vor!" "Sarah, Ich weiß es wirklich nicht, die Gedanken kamen mir einfach. Die Frage war ausgesprochen, noch ehe ich darüber nachgedacht hatte, was ich da eigentlich sagte! Es war ganz seltsam, so,  als hätte in dem Moment jemand anders für mich gesprochen. Ich kann es dir wirklich nicht sagen, woher diese Gedanken kamen!" 

Ein Schauer lief über meinen Rücken! War das möglich? Jemand anders hatte meiner Mutter die Worte in den Mund gelegt, die den entlarften, den ich bisher in meiner Scham und Angst gedeckt hatte und dessen diabolisches Geheimnis über 10 Jahre auch meines gewesen war? 

Anders konnte es nicht sein! Kein Mensch war im Stande etwas zu erraten, für das es einfach keinerlei Anzeichen oder Hinweise gegeben hatte. Für mich war plötzlich klar, dass es dieser Gott, von dem ich mein Leben lang immer wieder gehört hatte und an den meine Eltern glaubten, MICH gesehen hatte. Er hatte gewusst, in welch einer aussichtslosen, hoffnungslosen Lage des Schweigens ich gefangen gewesen war und dass ich mir eher die Zunge abgeschnitten hätte, als irgendetwas von dem Preis zu geben, was ich so sicher wie in einem Tresor, dessen Code für immer verschollen war, aufbewahrte.

Ich war erfüllt mit etwas, das man Ehrfurcht nennen könnte. Nun glaubte ich, dass dieser Gott sich persönlich für mich interessierte, dass er nicht nur eine Hauptfigur eines uralten Buches war, über den es faszinierende und übernatürliche Geschichten zu lesen gibt und über den die ganze Christenheit spricht. Nein, ich hatte erfahren, dass er wirklich lebendig war und er schien mir aus irgendeinem Grund helfen zu wollen. Anders konnte ich mir das alles nicht erklären. 

Langsam und etwas benommen stand ich von dem Stuhl auf, auf dem meine Mutter und ich gesessen hatten und legte mich wortlos wieder in mein Bett. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken nur so umher. Aber ich zwang mich nicht mehr zu denken, denn jetzt brauchte ich etwas Schlaf. Ich wollte wenigstens für ein, zwei Stunden einfach nur in das selige Gefühl des Schlafes, des Nicht-Daseins versinken, bevor ich mich wieder in die Realität zurück trauen wollte. 

Auch meine Mutter merkte, dass ich nun Ruhe brauchte und verließ daher leise den Raum. Vor Erschöpfung war ich sehr schnell eingeschlafen. 

Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt