Das Gefühl nicht mehr richtig Atmen zu können, riss mich aus dem Schlaf.
Eine schwere Last schien sich auf meine Brust gelegt zu haben und ich schnaufte panisch, hatte ich doch das Gefühl ersticken zu müssen. Saß da etwa jemand auf meinem Brustkorb? Wollte mich jemand oder etwas umbringen? Schossen mir die ersten, zugegeben etwas irrationalen Gedanke, durch mein verschlafenes, an Sauerstoffmangel leidendes Gehirn.
Auch wenn ich mich als nächstes nach der Effizienz einer solche Taktik fragte, könnte der Angreifer mich doch einfach mit einem Kissen ersticken...
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich mir sicher war, aus Atemnot direkt in Ohnmacht zu fallen, obwohl ich eigentlich noch nichtmal richtig wach war, rollte das Gewicht über meine Rippen und verlagerte sich auf meinen Bauch. Merkwürdigerweise ging ein seltsames Vibrieren von ihm aus. War das etwa ein lebendiges Handy oder ein sehr schwerer Wecker, der da meine Lunge vaporisiert hatte?
Nachdem die Last nun nicht mehr meinen Brustkorb zerquetschte und wieder genügend Luft in meine Lungen gelangte, öffnete ich mühsam meine verklebten Lieder. Obwohl ich erst noch verschlafen blinzelte und kaum etwas sehen konnte, verwarf ich diese bei klarem Verstand betrachtet doch eher verrückten Gedanken schnell wieder.
Als meine Augen sich an das helle Morgenlicht gewöhnt hatten, erkannte ich auch den wahren Missetäter. Mit seinen großen gelbe Augen starrten Michelangelo mich an.
Mit einem wütenden Schnauben warf ich den dicken, grauen Kater von meinem Bett und schimpfte: "Verdammtes Katzenvieh, wie oft soll ich dir noch erklären, dass du auf meinem Bett nichts zu suchen hast? Wer hat dich überhaupt in mein Zimmer gelassen?"
Es musste wohl meine Tante gewesen sein. Sie hatte den Kater noch nie besonders leiden können, selbst als er noch nicht bei ihr im Haus gewohnt hatte, und wusste genau, wie gern er mein Bett inklusive mich als sein Eigentum betrachtete.
"Selbst Monet hat mittlerweile kapiert, dass das hier mein Revier", wage deutete ich auf alles um mich herum, "und für euch absolut tabu ist! Und dieser Hund hat nichtmal den IQ einer Erbse!"
Das war natürlich etwas übertrieben, Monet war keineswegs so dumm wie ich ihn darstellte. Nur ein klein wenig trottelig und schwer von Begriff.
Beleidigt starrte Michelangelo mich aus seinen gelben Augen an -mit einem Hund verglichen zu werden kratzte bestimmt an seiner Katzen-Ehre-, dann erhob er majestätisch den Schwanz und stolzierte durch die angelehnte Tür aus meinem Zimmer heraus.
Nachdem das dicke Vieh weg war, warf ich mich noch einmal zurück in meine Kissen und schloss die Augen, um zumindest noch eine kurze Weile vor mich hin dösen zu können. Doch wie als hätte er diesen Gedanken gehört, fing mein Wecker genau in diesem Moment an nervtötend zu piepen.
Mit einem Knurren und ohne die Augen zu öffnen, tastete ich nach meinem Nachtkästchen, um meinem guten, alten Freund eine auf den Deckel zu geben. Selbst in meinem neuen Heim war sein lieblicher Ton immer noch nicht auszuhalten.
Aber früher war er zumindest nicht jeden Morgen, an jedem normalen Schultag zum Einsatz gekommen. Nur ab und zu mitten in der Nacht, damit die strickten Zeitpläne meiner Eltern eingehalten werden konnten. Was zuerst für die meisten wohl schlimmer klang, war eigentlich um einiges angenehmer, denn auf eine solche nächtliche Aktion konnte man sich davor immer einstellen und es bestand auch keine Regelmäßigkeit. Jeden Tag früh aufzustehen war hingegen einfach gegen die Natur des Menschen!
Nachdem ich meinen Wecker zum Schweigen gebracht hatte, schlug ich die Decke zurück und schwang widerwillig die Beine aus dem Bett. Ich öffnete ein Fenster, um die stickige Luft aus meinem Zimmer zu vertreiben und von der draußen herrschenden Kälte vielleicht ein wenig aufgeweckt und belebt zu werden, dann schlurfte ich missmutig ins Bad, wo meine Klamotten von gestern noch hingen.
Ich streifte meinen Schlafanzug ab und schlüpfte in mein Alltagsgewand hinein. Es war nicht so, dass ich keine Zeit mehr zum Duschen gehabt hätte, ich hatte einfach nur keine Lust. Und bei lockigen Haare merkte man sowieso nicht so schnell, wenn der Ansatz fettete.
Und mal ehrlich, für wen meiner werten Mitmenschen sollte ich mich denn bitte bemühen, mehr als durchschnittlich auszusehen?
Mit routinierten Handgriffen band ich meine krausen Haare nach hinten.
An meinem Pulli hingen einige Katzenhaare, die ich mit Hilfe einer der vielen Fusselrollen, die meine Tante im Haus platziert hatte, seit ein Hund und eine Katze (und ich) bei ihr lebten, entfernte, während ich mir meine Zähne putzte. Anstatt eines Spiegels hing über dem Waschbecken ein Bild, auf dem man zwischen vielen Farbklecksen und farbigen Flächen in den unterschiedlichsten Formen wage das Gesicht eines Menschen erkennen konnte. Meine Tante nannte das ein abstraktes Selbstportrait, doch ich fand, auch wenn sie vielleicht keine besonders schöne Frau war, diese Abscheulichkeit wurde ihr keineswegs gerecht. Mit Absicht schrubbte ich meine Zähne so, dass ein paar Zahnpastaspitzer auf dem Gemälde landeten.
Noch mit Zahnbürste im Mund lief ich mit lauten Schritten, die knarzende Holztreppe nach unten in die Küche, wo ich zwei Näpfe mit Futter und zwei mit Wasser füllte. Sofort von dem Klappern des Trockenfutters auf dem Edelstahl angelockt, betrat ein wuscheliger Berner Sennenhund den Raum.
"Morgen Monet", gurgelte ich mit dem Mund voller Zahnpasta, bevor ich alles in das Geschirrspülbecken ausspuckte und dann sowohl meinen Mund als auch die Bürste unter dem Wasserhahn ausspülte.
Der Hund begrüßte mich mit einem trägen Grunzen und einem kurzen Blick, dann wandte er sich seinem Frühstück zu. Auch mein Magen grummelte ein wenig, weswegen ich mir eine der schrecklichen, bemalten Porzellanschüsseln aus einem Schrank holte und sie mit Cornflakes und Milch füllte. Ich mischte noch ein bisschen Kakaopulver und Zimt mit rein, dann begann ich mir das ganze in riesigen Löffeln in den Mund zu schaufeln.
Monet hatte mittlerweile aufgegessen und schnüffelte nun interessiert an dem Napf mit Katzenfutter. Normalerweise würde ich ihn davon abhalten Michelangelos Portion auch noch zu essen, aber heute hatte der Kater meine Freundschaft schon viel zu früh am Morgen überstrapaziert. Also ließ ich Monet einfach machen. Er würde davon zwar später bestimmt richtig Durchfall bekommen, aber das wäre dann Tante Maddys Problem. Und die hatte mir den Kater ja erst eingebrockt.
Nachdem ich nun auch mein Frühstück beendet hatte, wusch ich mein Geschirr schnell ab und stellte es auf die Seite zum trocknen. Ich klopfte Monet noch zweimal auf seinen dicken Kopf, bevor ich dann beim Rausgehen fast über den grauen Kater gestolpert wäre. Er wartete im Türrahmen darauf, dass der große Hund, für den er sowohl Angst als auch Verachtung zu empfinden schien, die Futterstelle frei gab. Als er merkte, dass von seinem eigenen Essen dann aber wohl nicht mehr viel übrig sein würde, mauzte er anklagend und starrte mich auffordernd an.
Ich seufzte. Ein bisschen von seinem Futter konnte er ja noch abhaben, dass er verhungerte, wollte ich schließlich auch nicht. Wenn ihm auch eine kleine Diät sicherlich nicht schaden würde.
"Monet", rief ich also den Hund zu mir, "Geh auf deinen Platz." Gehorsam nahm er die Schnauze aus dem Napf und kam auf mich zugetrottet. Auf dem Weg zu mir fiel ihm dann jedoch sogleich das halbe Katzenfutter wieder aus dem leicht geöffnete Maul und verteilte sich auf dem weiß gefliesten Küchenboden.
Michelangelo traute sich nun wieder die heiligen Hallen der Nahrung zu betreten und schnuppert an den Futterklumpen, die Monet verloren hatte. Schnell begann er das mit Hundespeichel bedeckte Essen aufzulecken, als ob gleich jemand kommen könnte, der es ihm wegnehme. So viel zu unserem edlen Herr Kater...
Aber zumindest brauchte ich dann nachher nichts mehr wegzuwischen.
Den Hund musste ich unterdessen halb zu seinem Korb schleifen, der im Flur neben dem Terrarium unter einem weiteren gewöhnungsbedürftigen Kunstwerk meiner Tante stand. Vor dem Bewohner dieses Geheges hatte er wohl ein wenig Angst, was man ihm auch nicht unbedingt verdenken konnte.
"Komm schon, mein Großer", versuchte ich in zu überzeugen, "Du musst doch nur kurz hier warten. Gleich bin ich wieder da und lass dich raus."
Mit einem leisen Winseln ließ er sich von mir auf seinen Platz schieben, aber anstatt sich hinzulegen, blieb er angespannt in seinem Korb stehen und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen nervös an. "Ich bin gleich wieder da", meinte ich nochmal und bedeutete ihm mit beiden Händen an Ort und Stelle zu bleiben.
Dann lief ich die Treppen wieder hoch in mein Zimmer, vorbei an einer ganzen Galerie aus selbstgemalten Gemälden, deren Scheußlichkei ich mittlerweile einfach nur noch ignorierte, eine Hand am grün gestrichenen Geländer. Dort angekommen -mittlerweile war es sehr frisch im Raum geworden-, schloss ich schnell das Fenster wieder, stopfte alles nötige in meinen Rucksack und machte noch kurz mein Bett ordentlich.
Mein Schulzeug über der Schulter stürmte ich wieder die Treppe hinunter, wo Monet immer noch stocksteif in seinem Körbchen stand.
Seinen Schlafplatz konnte er wirklich nicht besonders leiden. Er würde bestimmt lieber oben schlafen, am besten sogar bei mir im Zimmer. Manchmal kam er deshalb auch tatsächlich hoch, aber der dumme Hund war nicht fähig die Treppen dann auch wieder runter zu laufen. Und um ihn wieder herunter zu tragen, war er leider sowohl zu groß als auch zu schwer.
Ich erlöste den Hund von seinem Elend und führte ihn zur Haustür, wo ich ihn nach draußen in die Freiheit entließ. Leider hatte ich nicht genug Zeit mit ihm richtig Gassi zu gehen, aber dafür würde er den ganzen Vormittag einfach im Garten rumlaufen dürfen, bis meine Tante heimkam. Vermutlich würde er dabei mit seiner trampeligen Art alles verwüsten und vor allem die ganzen kleinen Gartenzwerge würden bestimmt nicht gut wegkommen, aber mir sollte das nur Recht sein.
Dass ihm zu kalt würde, musste ich nicht befürchten. Sein Fell war dick genug und er hatte auf unseren Reisen auch schon Orte mit wesentlich kälteren Temperaturen besucht. Und ganz so lange sollte es auch nicht dauern, bis meine Tante nach den Tieren schauen würde. Nicht unbedingt wegen der Sorge um ihr Wohlbefinden, sonder eher um sicher zu gehen, dass sie die beiden schön brav waren und nichts kaputt machten. Aber egal warum, es war dennoch besser als wenn die beiden die ganze Zeit alleine wären.
Ich hätte ja gerne eine Hunde- oder Katzenklappe in die gelbe Haustür einbauen lassen, damit die beiden immer ein- und ausgehen konnten, doch meine Tante war gegen eine solche "Verunstaltung" der Tür gewesen. Außerdem empfand sie das als Sicherheitsrisiko und dem konnte ich leider auch nicht widersprechen. Denn auf Monet als Wachhund würde man sich nicht wirklich verlassen können, aufgrund dieser Unfähigkeit war er nämlich auch erst an meine Familie geraten.
Bevor ich das Haus verließ und mich auf den Weg zur Schule machte, klopfte ich noch grüßend gegen das Terrarium, vor dessen Bewohner Monet sich so sehr fürchtete. Doch die dort lebende Schlange nahm keinerlei Notiz von mir. Ihr Name war Kandinsky, weil meine Tante fand, dass das Muster auf seinem Rücken aussah wie das Werk "Picture with an Archer" von besagtem Künstler.
Ich konnte auf den Schuppen dieses Reptils keinerlei Meisterwerke auch nur irgendeines Künstlers entdecken, aber meine Tante hatte eben einen anderen Blickwinkel auf ihr heiß geliebtes, nicht haarendes Haustier.
Ich warf einen letzten Blick zurück. Wenn man sich in diesem alten Haus so umsah mit all dieser abstrakten Kunst (das meiste davon natürlich Tante Maddys eigene Werke), dem kitschigen Porzellan, dem grünen Treppengeländer und den kleinen, hässlichen Gartenzwergen, könnte man sie für eine etwas verschrobene Künstlerin halten.
Und meine Tante malte tatsächlich, arbeitete tagsüber auch in ihrem eigenen Atelier... allerdings war für sie Kunst nichts wirklich Persönliches, kein Medium, durch das sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen konnte, keine Art der Kommunikation. Nein, beim Malen war sie -wie eigentlich sonst auch immer- eine etwas unterkühlte Perfektionistin. Kunst war für sie eine Wissenschaft, sie strebte nach dem ultimativen Meisterwerk und war sich sicher, dass es dafür einen Weg, eine Formel geben musste.
Diese Art und Weise an Dinge heran zu gehen lag wohl in der Familie.
Wenn sie auch bisher damit eher mäßig Erfolg gehabt hatte. Also sowohl Tante Maddy, als auch meine Familie.
Ich wollte ihre Werke natürlich nicht nur kritisieren, schließlich war diese ganze zeitgenössische Kunst nicht wirklich mein Milieu, aber dennoch kannte ich mich immerhin ein bisschen damit aus und das waren absolut keine Bilder, die irgendjemand stehlen würde.
Ein paar Menschen schien ihre Kunst aber dennoch zu gefallen, schließlich konnte sie sich ein zwar bereits etwas älteres, aber dennoch ansehnlich großes Haus mit großzügigem Garten leisten. Und jetzt schaffte sie es auch noch, mich und zwei Haustiere, die ihr viel zu viel Schmutz machten, zu versorgen.
Außerdem wurden doch alle großen Künstler zu ihren Lebzeiten verkannt und verpönt.
Ich steckte mir den klimpernden Hausschlüssel in die Hosentasche. Mit einem tiefen Atemzug schloss ich die zitronengelbe Haustür hinter mir. Schnell durchquerte ich mit langen Schritten den Garten, durch den Monet bereits ausgelassen rannte, wobei seine Ohren wild hin und her flatterten, trat durch das Gartentürchen und schwang mich auf den alten Drahtesel, den mir Tante Maddy überlassen hatte.
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Blame Picasso
Teen FictionAls Teenager hat man es nicht leicht, vor allem wenn die Eltern im Gefängnis sitzen und man bei einer Tante wohnen muss, die einen nicht besonders leiden kann. Tamara könnte ein Lied davon singen, allerdings versucht sie so gut es geht ihre Vergange...