1. Nacht - 00:00 Uhr

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Mitternacht. Am Übergang von Donnerstag zu Freitag. Manche Menschen lernten um diese Uhrzeit noch für einen Test in ihrer Uni oder Schule. Andere wiederum arbeiteten noch verzweifelt für einen Job, der sie innerlich mit all der Arbeit Stück für Stück auffraß. Die meisten Menschen jedoch schliefen bereits oder waren auf dem Weg in ihr Bett. So wie ich. Ich schlief. Viel gab es darüber ja nicht zu sagen, ich hoffte nur, dass ich im Schlaf nicht sabberte oder, schlimmer noch, furzte. Das, was diese Stunde in dieser Nacht so besonders machte, weckte mich genau dann, als der Sekundenzeiger meiner Funkuhr auf Mitternacht sprang. Es war ein Rütteln an meiner Schulter, das mich die Augen aufschlagen ließ, gefolgt von einem nicht sehr leise geflüsterten "Pssst, wach auf!". Sehr subtil und gar nicht offensichtlich.
Ein Haustier konnte das jedenfalls nicht gewesen sein, denn erstens sprachen Tiere nicht und zweitens hatte ich nicht mal eins. Eine Mitbewohnerin oder einen Mitbewohner hatte ich auch nicht, ebenso wenig schlief in meinem großen Bett noch eine zweite Person, die mich hätte wecken können. War das Etwas, das mich wachgerüttelt hatte, also ein Einbrecher? Oder, schlimmer noch, ein Mörder? Aber welcher Mörder war so dumm und weckte sein Opfer, bevor er es ermordete?
Bevor die fremde Person mich noch fesselte oder gar Schlimmeres anstellen konnte, schaltete ich schnell das Licht meiner Nachttischlampe an, um die allesverzehrende Dunkelheit zu vertreiben. Mit geblendet zusammengekniffenen Augen sah ich hoch in das Gesicht einer hübschen jungen Frau. Mein Atem ging schnell und mein Herz raste. Natürlich, ich kannte diese Frau nicht, die hier in meinem kleinen Drei-Zimmer-Appartement stand, da war etwas leichte Panik wohl angebracht. In meiner Schockstarre verharrend, starrte ich sie weiter dümmlich an und wartete, was sie als nächstes vorhatte zu tun. Ein lautes 'Plopp' ließ mich zusammenzucken, doch schon hatte ich die Ursache dessen entdeckt. Die Fremde hatte eine Kaugummiblase zerplatzen lassen, deren Farbe so rosa war, dass das Kaugummi meiner Meinung nach giftig sein musste.
"Hi, ich bin Luna.", merkte die Schwarzhaarige grinsend in die Stille an. Welcher Verbrecher nannte seinem Opfer bitte seinen Namen?
Abschätzend glitt ihr Blick über mich, obwohl ich noch zur Hälfte zugedeckt in meinem Bett lag.
Ich starrte sie, Luna, einfach nur mit offenem Mund an, hatte mich noch immer nicht aus meiner Starre befreit. Sie war hübsch, mit ihren kinnlangen Haaren, obwohl sie sich geschminkt hatte wie eine Leiche mit dem ganzen schwarzen Lidschatten und den genauso dunklen Augen, die in dem blassen, filigranen Gesicht ruhten. Alles, was ich von ihrer Kleidung im Zwielicht erkennen konnte, war schwarz.
Nach einigen Sekunden fiel ihr Lächeln in sich zusammen. Sie verdrehte theatralisch die Augen und fragte mit genervtem Unterton: "Und, hast du auch einen Namen?"
Perplex blinzelte ich mehrmals und antwortete aus reiner Gewohnheit: "Eve"
Mein Hirn war offensichtlich auf Urlaub gegangen.
"Schön, freut mich, Eve.", grinste Luna jetzt wieder breit und hielt mir ihre Hand hin. Von ihren Stimmungsschwankungen war mir schon jetzt schwindelig. Das konnte ein normaler Mensch doch auf Dauer nicht ertragen. Ich kratzte mühsam den letzten Rest meines halbwegs gesunden Verstandes zusammen und sprang aus meinem Bett auf. Dort wäre ich in der unterlegeneren Position gewesen und ich mochte es nicht, zu dieser Einbrecherin aufschauen zu müssen. Generell sah ich zu niemandem gerne auf oder ordnete mich ihm anstandslos unter. Das Erstere natürlich im metaphorischen Sinne, denn so gut wie jeder war größer als ich.
"Was tust du, verdammt nochmal, in meiner Wohnung?! Und wer bist du überhaupt?!"
Ah, da war sie ja wieder; meine verloren geglaubte Stimme. Allerdings war ich so laut gewesen, dass ich befürchtete, meine Nachbarn damit aus ihren Betten zu reißen. Ich hörte schon beinahe die dumpfen Aufschläge und das Rumpeln, wenn sie schmerzhaft und mit dem Gesicht voran, auf dem Boden aufkamen. Obwohl, das hier war doch eine Notsituation, wen interessierten dann meine Nachbarn? Ich konnte so laut schreien, wie ich wollte, um diese Einbrecherin zu vertreiben.
Diese zog jedoch nach meinem Ausbruch nur unbeeindruckt eine ihrer fein geschwungenen Augenbrauen hoch.
"Ich bin Luna, das habe ich dir bereits gesagt."
Bei ihrem Tonfall kam ich mir vor, als wäre ich diejenige, mit der etwas nicht stimmte.
"Das beantwortet meine Fragen kein bisschen!", zischte ich zurück.
Ein entnervtes Stöhnen ihrerseits trieb mich noch näher zur sprichwörtlichen Weißglut. "Also gut, fangen wir von vorne an. Mein Name ist Luna, was ich dir jetzt zum dritten Mal sage. Was ich in deinem Appartement mache? Wirst du mir eh nicht glauben. Aber ich hatte nicht vor, etwas zu klauen, klar?"
Nein. Gar nichts war klar.
Die wollte mich wohl verarschen, aber das konnte ich auch gut alleine. Warum hatte ich meinen Alu-Baseballschläger bloß neben meine Tür gestellt? Na Klasse, wenn ich ihn mal brauchte, war er unerreichbar. Also sah ich mich ganz unauffällig nach etwas um, was mir weiterhelfen konnte. Wo war bloß mein Handy? Ich hatte es vorm Schlafengehen doch auf meinen Nachttisch gelegt.
"Suchst du was?", fragte Luna unschuldig und hielt wie zufällig mein Handy in ihrer Hand hoch.
Mist, jetzt konnte ich auch nicht die Polizei informieren, wenn ich an der Irren nicht vorbei zum Festnetztelefon in der Küche kam. Wenn Blicke töten könnten, wäre Luna jetzt nur noch ein eingebrannter Fleck in meinem Teppich.
"Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich weder dir, noch deinen Wertgegenständen etwas Böses will?"
Ein zynisches Schnauben meinerseits war die Antwort.
"Ja nee, ist klar. Du bist nur aus Spaß an der Freude hier eingebrochen."
"Streng genommen bin ich eigentlich gar nicht wirklich eingebrochen, sondern..."
"Sondern...?", hakte ich nach.
"Naja...", druckste sie rum. "Auch wenn du mir das nicht glauben wirst, aber ich bin hier, in diesem Raum, einfach erschienen. Mein Bruder hat sich offensichtlich einen Spaß erlaubt und wollte mich damit ärgern, wie ich denn aus dieser Situation wieder heil hinauskomme."
"Also hat er dich hergebeamt. Wie bei Star Trek.", tat ich, als würde ich sie verstehen und ihr das alles abkaufen, während ich insgeheim meine Flucht plante. Wenn Sie weiterredete, wäre sie vielleicht irgendwann unaufmerksam genug, dass ich entkommen könnte.
"Es ist nicht wirklich ein Beamen..."
Und schneller als die Irre gucken konnte, stürmte ich an ihr vorbei. Bis die Polizei meinen Anruf annahm, würde sie mich schon eingeholt haben, also schnappte ich mir den Baseballschläger neben der Wohnungstür. Ich wirbelte damit herum und bemerkte erst jetzt, wie kurz sie davor gewesen war, mich einzuholen. Schnell trat sie einen Schritt zu ihrer eigenen Sicherheit zurück, schluckte und hielt die Hände hoch. Mein Dad hatte früher mit mir jeden Samstag Baseball gespielt. Folglich konnte ich mit dem Schläger umgehen und alles punktgenau treffen, inklusive Luna, falls sie vorhatte, mich anzugreifen. Und das würde eine große Beule an ihrem Kopf bedeuten.
"Hey, ganz ruhig, ja?", flüsterte sie langsam und tat so, als wäre ich ein wildes Tier, das es zu beschwichtigen galt.
"Du gehst jetzt aus meiner Wohnung." Laut und deutlich verließ jedes Wort meinen Mund, damit es keine Missverständnisse gab.
"In Ordnung, mach ich. Darf ich aber einen Muffin mitnehmen? Ich hab gesehen, dass du welche in deiner Küche stehen hast.". Mit dem Daumen deutete sie hinter sich; in die Richtung, in der meine Küche lag.
Verständnislos sah ich Luna an.
"Ich bedrohe dich mit einem Baseballschläger und alles, was du willst, ist ein Muffin?!"
"Ich mag die halt und mitten in der Nacht bekomme ich so leicht keinen mehr." Sie klang wie ein kleines, quengelndes Kind und zur Krönung der Absurdität meiner Lage machte sie einen Schmollmund und setzte den herzzerreißendsten Dackelblick auf, den ich je gesehen hatte. Ich fasste es nicht. Mitten in der Nacht stand ich mit einer Irren in meinem Flur und bedrohte sie mit meinem Baseballschläger. Das Einzige, woran sie jedoch dachte, war nicht, eine heile Haut zu behalten und zu verschwinden, sondern sie wollte in diesem Moment nichts sehnlicher, als einen Muffin. Gewaltiger Druck begann, sich in mir aufzubauen und ich musste ihn einfach loswerden. Ich konnte nicht anders. Ich krümmte mich vor Lachen, bis mir die Tränen kamen und auch dann lachte ich noch eine gefühlte Ewigkeit weiter. Zwischendurch nahm ich auch Lunas Kichern wahr und schlussendlich fand ich mich schwer atmend auf dem Boden wieder und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln.
"Gott, jetzt hab ich Bauchschmerzen." , beklagte sich Luna, die neben mir auf dem Boden lag und langsam aber sicher einen Schluckauf bekam.
"Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so sehr gelacht habe.", beichtete ich grinsend.
"Ich auch nicht."
Sie stand ächzend auf und streckte mir ihre Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Misstrauisch sah ich zwischen ihren Augen und der zierlichen Hand hin und her.
"Ich weiß ja nicht, wie's dir geht, aber ich hatte gerade den Lachflash meines Lebens. Ich hatte noch nie vor, dir irgendetwas zu tun, also komm schon, vertrau mir bitte etwas", animierte sie mich.
Sie hatte ja recht. Hätte sie mich töten wollen, hätte sie das schon längst machen können, als ich mich halb totgelacht habe. Etwas Grundvertrauen wäre vielleicht angebracht, also ergriff ich grinsend die mir dargebotene Hand. Ich habe noch nie jemanden in Gothic-Klamotten so sehr lachen sehen, wie Luna. Wie man sich im Äußeren eines Menschen doch täuschen konnte.

From Night To DayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt