(96) 31.10.1981 - Bulgarian orphanage

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Als Kleinkind wuchs ich in einem Seelhaus am Rande der bulgarischen Hauptstadt auf. Die armselige sechs Hektar große Fläche lag abgegrenzt hinter einer hohen und dicken Mauer aus tönernen Ziegelsteinen. Stein auf Stein zog sich die Mauer immer höher bis sie die allerletzten Baumgipfel des umliegenden Waldes vom letzten Blick abschottet. An dieser Mauer entlang war eine undurchdringbare und fast so große Dornenhecke wie die Mauer zu sehen. Die Hecke jedoch war von einem Zaun umgeben, auf dem immer wieder Strom floss. Der einzige Weg zur Außenwelt war im südlichen Teil der Mauer. Nichtsdestoweniger war dieser Ausgang so nah und doch so fern.

Dahinter lag ein großer Wendekreis, in dem der Getränke- und der Nahrungsmann all das bestellte vorbei brachte. In mitten von diesem Kreis lag ein prachtvoller Brunnen mit zwei Engel als Statuen. Der rechte Engel erschien in einem weißen Marmor, während der linke in einem schwarzen Abbild errichtet wurde. Die Engel waren nicht freundlich zueinander. Ihre Hände griffen den Flügel des anderen und die deutlich erkennbare Farbe des dargestellten Blutes hob die schreckliche Handlung ungemein hervor. An manchen Tagen als ich durch das fensterlose Loch meines Zimmers sah, konnte ich ansatzweise diesen Brunnen erblicken.

In diesem schon damals recht großen und vermorschten Seelhaus fand man für sechshundert Findel- und Waisenkinder einen Schlupfwinkel. In Bulgarien gehörte es früher nicht zum Brauch leerstehende - fast zerfallenen - Gemäuer für gesellschaftsunfähige oder -störende Kinder abzuwerben. Es war vergleichbar mit einer Anstalt für missratene Kinder; die sich von Zeit zu Zeit in eine Anstalt für bedauernde Kinder anstieg. Die reichen Leute wollten diese Kinder keine Heimat bieten, da sie in ihren Augen der Abschaum waren. Auch für viele Angestellte in diesem Hause waren wir nicht mehr wie eine Horde kleiner Kinder, die ihnen die Zeit stehlen. Hier arbeiteten diejenigen, die zu keiner anderen Arbeit taugt. Hier arbeiten diejenige, die zu keiner Arbeit Lust verspürte. Hier arbeiten diejenigen, die durch aggressives und autoritäres Gehabe ihre Erziehung in einen hineinprügeln wollen.

In diesem drei Hektar großen Anwesen, welches in der Mitte des Grundstücks lag, wunderte ich mich nicht, weswegen sich dorthin niemand verirrte. Im Stockwerk eins und zwei waren die Fenster noch gut isoliert. Jedoch waren die Fenster durch Gitter ausbruchssicher. Wohin sollte ein Säugling oder ein Kleinkind in einem mittig stehenden Gebäude umzingelt von einer riesigen Mauer fliehen? In der Beletage drei waren etliche Fenster mit Holzplatten verschlossen, sodass nur durch die Ritze ein wenig Licht hereinfiel - falls hier einmal die Sonne scheinen sollte. In diesem Stockwerk lebten die schwererziehbaren Kinder und manchmal, wenn es nachts still wurde, konnte ich die gespenstischen Schreie aus diesem Stock vernehmen. Im Geschoss vier lebten die Findelkinder und in der Fünf die Kinder mit Behinderungen. Und die im berüchtigten Dachgeschoss lebte ich mit nur wenigen anderen Waisenkindern zusammen. Dieser Bereich war fensterlos. Nur mit einem offenen Loch in jedem Zimmer, konnte man sich vorstellen wie kalt es im Winter dort droben war.

Jedoch konnte ich von meinem Loch hinaus den Brunnen mit dem streitenden Engel sehen. In meiner Welt gab es nur schwarz-weiß. In meiner Erinnerungen lag dieser Ort unter einer dunklen Wolke und allein der Brunnen zeigte in dieser Welt die Unbarmherzigkeit und Trostlosigkeit. Es gab in jener Zeit kaum Lichtblick auf Gutherzigkeit und einem Hauch von Wohlgefallen. In einem Leben ohne Farbe und Gefühl wurde ich von einer entkräftenden Frau geboren, wuchs ich ohne eine Sehnsucht nach Familie auf und lebte seither ohne einen ebenbürtigen Gegner. Der Brunnen zeigte mir nicht nur in jener Zeit, was es bedeutet, niemals aufzugeben und für seine Bedürfnisse zu kämpfen. Wichtiger war die Erkenntnis in der späteren Zeit. Hier war die Bedeutung des Brunnen schon fast wie ein schicksalhafter Anblick. Genau in jener kältesten Nacht als ich dies begriff, entdeckte ich nicht nur die Magie sondern auch, dass ich allein für eine andere Person die Herausforderung war. In jener Nacht wusste ich, dass ich für weitaus Höherem bestimmt sein musste, als ewiglich in diesem Seelhaus zu verrotten.

*

Dieser immer wiederkehrende Traum ließ mich an jenem Abend des letzten Tages im Oktober zu diesem Ort apparrieren. Tom wollte mich begleiten, doch sagte ich, er sollte zurückkehren und mich erst in fünf Stunden abholen. An diesem Ort, um dessen Existenz ich nicht wusste. An diesem Ort, in der ich die Hauptrolle spielte. An diesem Ort, an dem ich das Gefühl nicht los bekam, dass ich hier schon einmal war. Tom hatte mir an jenem Mittag geschworen, dass er auf Hermine aufpasste. Ich musste herausfinden, was mich wirklich mit diesem recht verfallenen Ort verband. Ich musste herausfinden.

Mit schnellen Schritten verließ ich den kahlen Wald und fand mich an diesem Wendekreis mit dem Brunnen wieder. Die Engel waren von Efeu überrankt. Mit Mühe konnte ich die Statue aus den Fängen dieser Pflanze befreien. Ich wusste nicht, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass diese Statue wahrlich mit meiner Vergangenheit zu tun hatte. Und das obwohl ich mich an alles erinnern konnte. Oder hatte ich wirklich etwas Entscheidendes vergessen?

Aus heiterem Himmel schienen sich die Gesichter der Engel zu verändern und ich erschrak als ich erkannte, was mir direkt vor mir bot. Der schwarze Engel hatte das Gesicht von Tom. Und der weiße Engel trug das schmerzverzerrte Gesicht von mir? Was sollte das nur sein? Diese Statue entwickelte sich zu etwas Schaurigem. Ich stieg mit gemischten Gefühlen aus dieser Statue herab und erkannte ein Schild unter dem vorhandenen Efeu.

»Ein Trunk gewiß so süß,
überzieht dem Feuer das Eis.
Die Liebe so rein und hold,
gerinnt durch Hass und Übermut.

Ein Zwillingspaar erwacht an der Wende,
wenn sich zwei Zauberer anfeinden.
Zwei Waisen teilen das gemeinsame Schicksal,
zur Laste der Welt auch das Gefühl.
Das Feuer trifft auf das Eis,
wenn eine Entkräftete aus der Welt nachlässt.
Der Geist wachsam, mächtig und final.
Der Weg geprägt von Alleinsein, Schwäche und Verschmähung,
gewährt dem Zwillingspaar Gelehrtheit, Gefährten und Haltung.

Was einst als Feindschaft begann,
geht den Weg der Verbundenheit
bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes.«

Expecto PatronumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt