12 (HENRI & TIM)

2 0 0
                                    

12 (HENRI & TIM)

Sophie konstant traurig zu sehen, war extrem ungewohnt – und schrecklich. Henri hatte bis jetzt noch keinen Weg gefunden, sie zu trösten, sie war einfach so endlos träge und freudlos. Vermutlich half es nichts; er musste einfach irgendwie versuchen, sie abzulenken. Spontan beschloss er am frühen Freitagabend, seine beste Freundin zu besuchen. Jutta machte die Haustür auf und schien erfreut, dass er zu Besuch kam. „Sehr gut", sagte sie in gedämpfter Stimme, wobei sie sich leicht zu Henri beugte, als ginge es um etwas Geheimes. „Mach ruhig, dass Sophie mal rauskommt. Außer zur Schule geht sie nirgendwo mehr hin." Dann führte sie Henri durch den Flur und das Wohnzimmer aus der Terrassentür heraus in den Garten. Er war ziemlich klein und eckig. Die Gärten hinter den Reihenhäusern waren systematisch und auf den Zentimeter genau mit hohen Zäunen voneinander abgetrennt. Unter anderen Umständen hätte das ein klaustrophobisches Gefühl vermitteln können, aber die weiß angestrichenen Holzstühle und die Efeuranken ließen den kleinen Garten eher wie eine Höhle wirken. Von der Außenwelt abgetrennt, gemütlich und heimisch. Genau die Art von Ort, an dem Sophie sich jetzt vermutlich am liebsten vergraben würde, um erst in einigen Jahren wieder aufzutauchen.
Ganz ans Ende der Bank gerückt saß sie mit angezogenen Knien in eine Decke eingewickelt. Abgesehen von ihrem Kopf lugten nur noch ihre Hände aus der Decke hervor, die ein Glas Bananensaft umklammerten.
Den Blick ins Leere geheftet, bemerkte Sophie die Anwesenheit Henris erst, als ihre Mutter sie darauf hinwies, dass sie Besuch hatte.
Kurz lächelte sie zur Begrüßung, doch ihr Gesicht sah dabei eher schmerzhaft verzehrt als freudig überrascht aus. Sie gab sich nicht einmal Mühe, Begeisterung vorzutäuschen. Jutta drückte Henri ebenfalls ein Glas Bananensaft in die Hand, während er sich auf einem der Gartenstühle niederließ. Nachdem er sich ausgiebig mit Sophies Mutter unterhalten hatte, in der Hoffnung, Sophie selbst würde irgendwann mal das Wort ergreifen, und sei es nur für eine leere Anmerkung, fragte Jutta, was sie denn heute noch vorhätten.
„Wir werden uns eine Menge bewegen", sagte Henri verschwörerisch, und hoffte insgeheim, Sophies Interesse damit ein bisschen zu wecken. Tatsächlich kommentierte sie seine Aussage.
„Ich will nicht feiern gehen", krächzte sie, als hätte sie ihre Stimme seit Stunden nicht mehr benutzt. So war es vielleicht ja auch.
Henri grinste. „Glaub mir, du wirst dir noch wünschen, du wärst feiern."

Unentschlossen stand Tim im Garten der Bellencontres, vor einem Fenster, von dem er glaubte, es könnte Cocos sein, während der Himmel sich textmarkerpink färbte.
Was sollte er jetzt tun? Aus irgendeinem Grund wollte er sie weder anrufen noch ihr schreiben. Es musste doch auch irgendwie ohne Handy gehen, früher hatte es doch auch irgendwie funktioniert. Allerdings wollte Tim wirklich, wirklich nicht mit Steinen an Cocos Fenster schmeißen. Erstens, weil ihm das zu klischeehaft vorkam, und zweitens wusste er nicht, ob das nicht vielleicht Kratzer im Glas hinterlassen könnte. Nach kurzem Überlegen nahm er die Packung Tabak, die er dabeihatte, aus seiner Hosentasche und warf sie an das Fenster.
Ein dumpfer, nicht allzu beeindruckender Aufprall folgte, der aber dennoch deutlich zu vernehmen war.
Starr wie eine Salzsäule, mit aus einem unbekannten Grund angespannten Muskeln wartete Tim, den Blick auf das Fenster geheftet. Schließlich kam ein dünner, heller Arm zum Vorschein, der das Fenster öffnete.
Coco erschien im Fensterrahmen. Mit ausdrucksloser Miene legte sie den Kopf schief und betrachtete Tim, als wäre er ein mäßig interessantes Tier im Zoo. Er war verunsichert. Aus seiner Jackentasche holte er einen Joint und hielt ihn in die Höhe. „Rauchen wir was?"
Daraufhin schloss Coco das Fenster und verschwand aus Tims Blickfeld. Er biss sich von innen auf die Wangen. Würde sie jetzt kommen oder nicht?
Sie kam, er sah sie in einigen Metern Entfernung, wie sie um die Ecke des Hauses bog und auf ihn zukam. So wie sie sich bewegte, wirkte sie schon nicht mehr so verwirrt und abwesend wie eben noch aus ihrem Fenster heraus. Aber ihre Augen waren verquollen und rot, das konnte er jetzt sehen, wo sie auf ihn zukam. Eigentlich hätte Tim zu dem Schluss kommen müssen, das Ganze sei eine schlechte Idee gewesen, und er hätte einfach zuhause bleiben sollen, und dieser Gedanke kam ihm auch – aber beim Anblick des wunderbaren Gesichts war er in erster Linie einfach glücklich, Coco zu sehen. Trotz allem, warum hatte sie geweint?
Das Mädchen, das ihm gerade einmal bis zur Brust reichte, machte erst Halt, als sie so nah war, dass Tim ihr Atmen vernehmen konnte. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie, als Coco den Kopf hob, sich auf die Zehenspitzen stellte, und Tim leicht zu sich herunterzog. Sie küsste ihn fordernd, intensiv, und das einzige, was sie noch zu trennen schien, war der gigantische Größenunterschied. Leicht, wie Coco war, hob Tim sie hoch, so dass ihre Köpfe endlich auf einer Höhe waren. So war es besser, definitiv. Sie war ihm so nah, und mit ihrer Brust gegen seine eigene gedrückt, hatte Tim fast Angst, sie zu erdrücken. Ihr Körper war wie aus Porzellan, fühlte sich genauso zerbrechlich an und war auch fast so hell. Er konnte jeden einzelnen ihrer Rippenknochen durch ihr dünnes Top spüren.
Als Coco wieder festen Boden unter den Füßen hatte, drehte sie sich auf der Stelle und ging, Tim voran, in Richtung Park.
„Alles okay bei dir?", fragte Tim, auch wenn ihm das etwas lahm vorkam. Er wollte, dass sie etwas sagte, denn bis jetzt hatte sie noch gar nicht geredet.
„Ja, natürlich", antwortete Coco etwas heiser und so automatisch, als wäre sie programmiert, so zu antworten.
Zu gerne hätte Tim sie getröstet, wegen was auch immer, aber er wusste, das würde sie nicht wollen, denn dann hätte sie ja zugeben müssen, dass sie Gefühle hatte.

coco und coWo Geschichten leben. Entdecke jetzt