Kapitel 30

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Es war unverkennbar derselbe, der vor mir auf dem Tisch lag.
Verunsichert schaute ich meine Großeltern an. "Das ist Yasmins Ball?"
"Ich denke schon", antwortete Oma.
"Sie hatte ihn damals fast immer bei sich, wenn sie auf den Spielplatz gegangen ist. Aber nachdem sie verschwunden ist, haben wir ihn nicht mehr gefunden", ergänzte Opa.
"Das heißt, sie hatte ihn an diesem Tag bei sich?", fragte ich und meine Augen weiteten sich.
"Vermutlich, er war genauso plötzlich weg wie Yasmin." Die Furchen auf der Stirn meines Großvaters schienen sich bei diesen Wörtern zu vertiefen.
"Doch jetzt liegt der Ball auf einmal im Garten", sagte Oma leise und ließ den Satz unvollständig im Raum stehen. Ihre blauen Augen betrachteten voller Sorge Yasmins Foto.
Mir wurde etwas mulmig zumute. Wieso tauchte der Ball nach so langer Zeit auf? Wenn man ihn nicht hatte finden können, lag es nahe, dass der Mörder ihn damals mitgenommen hatte. In meinem Kopf hörte ich Tristans Stimme, die mir ins Ohr flüsterte, dass viele Mörder ein Andenken an ihre Opfer aufbewahrten. Hatte er das auch in Yasmins Fall getan? War der Ball ein Zeichen seines Triumphes?
Schlagartig begann ich, zu frieren und presste die Arme eng an meinen Körper. Die Überlegungen waren unheimlich und ich spürte mein Herz laut in mir schlagen.
"So lang war der Ball verschwunden, aber sobald Tristan und du euch für die Vergangenheit interessiert, ist er plötzlich zurück", fuhr Oma fort. "Das ist kein Zufall, Isabelle."
Das wurde mir gerade ebenfalls klar. Wenn der Mörder den Ball tatsächlich all die Jahre über besessen hatte, hatte er ihn bewusst im Garten platziert. Er wollte mir etwas mitteilen.
Mit den Fingerkuppen fuhr ich über die raue Oberfläche des Gegenstandes und drehte ihn etwas hin und her. Was ich mir davon genau erhoffte, wusste ich auch nicht. Vielleicht eine Botschaft oder ähnliches.
"Wir erfahren von Tristans und deinem Vorhaben und am selben Tag findest du den Ball. Ist das nicht merkwürdig?" Oma legte eine kurze Pause ein und ich hielt unwillkürlich die Luft an. "Das ist mehr als ein Zeichen. Es ist eine Warnung."
Omas Worte hallten in mir wider und ich schluckte. "Eine Warnung. Wovor?", sprach ich meine Gedanken laut aus.
"Jemand will nicht, dass ihr weiter nach dem Mörder sucht. Und wer hätte da schon größeres Interesse daran, als der Mörder selbst?", erwiderte Opa und ein Zittern durchlief meinen Körper.
War es nun etwa soweit? Hatte uns der Mörder jetzt tatsächlich im Visier? Das war wirklich das Schlimmste, was ich mir von Beginn an hatte vorstellen können. Christel hatte mich ausdrücklich vor dieser Situation gewarnt, doch ich hatte lediglich abgewunken. So etwas könne nicht eintreten, dazu wären wir viel zu vorsichtig. Hatte ich gedacht.
Doch was nun? Vorgestern hatte ich noch beteuert, ich wolle weitermachen. Aber angesichts der Tatsache, die ich im Moment zu verstehen begann, wäre es mit weitaus mehr Risiken verbunden als ursprünglich angenommen. Wollte ich diese wirklich eingehen?
"Scheiße", rutschte es mir heraus. Was würde Tristan sagen, wenn ich ihm davon erzählte? Würde er trotzdem weitermachen?
Ich nagte an meiner Unterlippe und verhakte die Finger ineinander. Das Gefühl, dass ich an dieser Situation schuld war, überkam mich wieder und ich musste sofort daran denken, wie Volker in der Kneipe herumposaunt hatte, dass wir den Mörder suchten. Ein einziger, unüberlegter Satz konnte derartige Folgen haben.
Mir wurde leicht schwindelig und ich legte die Arme auf die Tischplatte, um mich abzustützen. Omas sorgenvoller Blick ruhte auf mir und ich wagte es kaum, ihr in die Augen zu sehen.
Niemand ergriff das Wort und ich konzentrierte mich auf meinen eigenen Atem, um meine Gefühle und Gedanken etwas zu beruhigen. Aber langsam wuchsen nicht nur die Vorwürfe in mir, sondern auch die Angst. Meine Hände fühlten sich gleichzeitig kalt und heiß an. Jegliche Gegensätze schienen gerade aufeinanderzuprallen. Aufhören, weitermachen. Furcht, Hoffnung. Einsehen, Verdrängen.
"Isabelle, ich habe Angst um dich", flüsterte Oma plötzlich und umgriff meine Handgelenke. Die Berührung ließ mich zusammenzucken. "Du musst aufhören."
Mein Mund war trocken und die Zunge klebte mir am Gaumen fest. In Omas Gesicht konnte man in diesem Augenblick wie in einem offenen Buch lesen. In ihren Augen stand das Bangen um mich, die Sorgenfalte auf ihrer Stirn erschien mir tiefer denn je. Unter ihrer blassen Haut schimmerten ein paar blaue Äderchen hindurch und ich konnte ihren erhöhten Puls an meinen Händen spüren.
"Du und deine Mutter, ihr seid doch die Einzigen, die uns geblieben sind", sagte sie so leise, dass ich es kaum verstehen konnte.
Jedes flehende Wort meiner Großmutter war wie eine Nadel, die sich in mein Herz bohrte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Einerseits wollte ich ihr alles versprechen, worum sie mich bat, andererseits ahnte ich, dass ich es nicht halten können würde. Die Gedanken an Yasmin hatten in der letzten Woche einen viel zu großen Teil meines Denkens eingenommen, sodass ich sie nun nicht von einer Sekunde auf die andere vertreiben könnte, so sehr ich es mir wünschte. Außerdem hatte sich das Ziel, den Mörder meiner Schwester zu finden, fast schon zu einem Verlangen entwickelt.
Doch ich war mir auch darüber bewusst, dass ich dafür hohe Risiken eingehen musste. Der Mörder selbst hatte es unter Umständen auf uns abgesehen und schreckte vor einem weiteren Mord wahrscheinlich nicht zurück. Mit jeder Frage und jedem Verdacht näherten Tristan und ich uns ihm. Aber wenn wir nicht genug aufpassten, würde er unserer Suche ein Ende setzen, bevor wir ihn tatsächlich gefunden hatten.
Mein ganzes Gehirn arbeitete und vor meinem inneren Auge liefen erschreckende Szenarien wie Kurzfilme vor mir ab. Ich schnappte nach Luft und entzog Oma meine Hände.
Die Angst in mir loderte erneut auf und ich hätte ihr nur allzu gerne nachgegeben. Meine Ferien einfach damit zu verbringen, meinen Großeltern im Garten zu helfen und faul auf der Hollywood-Schaukel zu sitzen. Doch in der hintersten Ecke meines Kopfes sagte mir ein Stimmchen, dass ich sowieso nicht aufhören können würde. Und es hatte recht.
Tristan hatte mein Interesse mit seinen Verdächtigungen geweckt und ich ahnte, dass ich nicht eher Ruhe geben würde, bis ich Yasmins Mörder Auge in Auge gegenüber stand.
"Ich weiß nicht, ob ich das kann", begann ich und schaute Oma und Opa nacheinander an. "Loslassen und nicht mehr daran denken."
Stumm sahen mich die beiden an, die Köpfe leicht gesenkt. Ihre Gesichtsfarbe glich der leicht gräulichen Raufasertapete in Opas Büro.
Eigentlich wollte ich noch etwas hinzufügen, doch ich wusste nicht, was. Wie sollte ich es vernünftig erklären, obwohl ich mir vorstellen konnte, wie sie sich fühlten und welche Gedanken sie hatten? Ein Kind zu verlieren, stellte bereits eine kaum auszuhaltende Qual dar. Ein weiteres Kind in derselben Gefahr zu vermuten, musste ähnlich sein. Nur schlimmer.
"Lass die Finger davon", sagte Opa und seine sonst so ruhige Stimme bebte.
"Ich würde gerne", erwiderte ich und presste die Lippen aufeinander. "Aber ich glaube, dass das ein falsches Versprechen wäre. Viele meiner Gedanken drehen sich nur noch um Yasmin und ich kann sie nicht einfach so abschalten."
Oma schlug den Blick nieder und nahm Opas Hand. Ihren Kopf hatte sie eingezogen, als wolle sie ihn zwischen den Schultern verstecken. Ihre Schlüsselbeine zeichneten sich deutlich unter ihrer Haut ab und ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen.
"Möchtest du es nicht versuchen? Vielleicht verschwindet die Gedanken genauso schnell, wie sie gekommen sind", sagte mein Großvater und die Hoffnung in seinem Gesicht brach mir beinahe das Herz. Meinen Großeltern so gegenüber sitzen zu müssen, tat mehr weh als jeder Liebeskummer der Welt. Doch das Bewusstsein, dass ich für diese Situation verantwortlich war, machte es noch unerträglicher.
"Ich werde es versuchen", antwortete ich leise und schluckte. Dass ich es nicht schaffen würde, hatte ich längst begriffen.
Erleichterung glättete Omas Gesicht wieder ein wenig und die Sorgenfalte verschwand. "Danke, Isabelle. Es gäbe nichts Furchtbareres als..." Die letzten Wörter verschluckte sie, doch auch ohne das Satzende wusste ich, was sie hatte sagen wollen. Dich zu verlieren, ergänzte ich lautlos.
Aber so weit würde es nicht kommen. Hoffte ich zumindest. Ich schluckte und lächelte tapfer.
Doch selbst wenn ich es versuchte, was war dann mit Tristan? Inzwischen kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht aufhören würde, unabhängig davon, was ich tat. Aber mir käme es trotzdem wie ein Verrat vor, ihn nun einfach im Stich zu lassen. Vielleicht machten meine Großeltern und ich auch gerade aus einer Fliege einen Bären.
"Du erinnerst mich an deinen Vater", sagte Opa und ich starrte auf meine Fingernägel.
Ein "Warum?" brannte mir auf der Zunge. Trotzdem sprach ich es nicht aus und nickte lediglich kaum merklich.
"Möchtest du mir diese Woche bei den Vorbereitungen für das Dorffest helfen?", wechselte Oma das Thema und ich hätte ihr nicht dankbarer dafür sein können. Zumindest für einen Moment verschwanden alle Sorgen aus meinem Kopf.
"Gerne", stimmte ich zu. Bereits in den Jahren zuvor hatte ich Oma dabei unterstützt.
Bei dem Dorffest trafen sich die meisten Einwohner auf einer großen Wiese am Waldrand, nur ein paar Minuten von hier entfernt. Dort gab es einen großen Grillplatz und Bierbänke und Tische wurden zusätzlich aufgestellt. Jeder brachte etwas zu essen mit, man unterhielt sich oder veranstaltete kleine Spiele, bis es schließlich dunkel wurde. Dann gab es traditionell ein riesiges Feuer und man wartete gemeinsam, bis es vollständig abgebrannt war.
"Du musst Christel unbedingt davon abbringen, ihren Tanz um das Feuer aufzuführen", meinte Opa an Oma gewandt.
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Mit zunehmendem Alter schien Omas beste Freundin immer seltsamer zu werden. Tarot zu legen und aus Kaffeesätzen zu lesen, konnte man noch als Spinnerei abtun. Doch vor mir sah ich Christel bereits eine Art Hexentanz aufführen, wie ich ihn von Bildern kannte. In einer solchen Situation würde ich wahrscheinlich vor Fremdschämen im Boden versinken.
"Sag mir Bescheid, sobald ich dir irgendwo unter die Arme greifen kann. Ich gehe jetzt zu Tristan", meinte ich und malte mir bereits aus, was er zu dem Ball sagen würde.
Oma biss sich auf die Lippe, erwiderte jedoch nichts. Dass sie nicht begeistert davon war, konnte man ihr mehr als deutlich ansehen.
"Gut, bis später", antwortete Opa stattdessen und entließ mich damit.
Ich sprang regelrecht auf, erleichtert darüber, nun mit meinen Großeltern nicht mehr über den nächtlichen Vorfall und dessen Bedeutungen sprechen zu müssen. Das Hollandrad lehnte an der Hauswand und ich trat schneller in die Pedale denn je.
Die Kneipe war geschlossen und auch als ich durch die Scheibe spähte, konnte ich niemanden im Inneren entdecken. Kein Wunder, schließlich begann der Betrieb erst abends und Uwe fing meistens am Nachmittag damit an, alles vorzubereiten.
So klingelte ich direkt an der Haustür und war froh, als Tristan mir öffnete. Wahrscheinlich hätte Uwe mich komisch beäugt, schließlich hatte er beinahe danebengestanden, als Volker meine Aussage durch den ganzen Raum posaunt und das Schicksal somit seinen Lauf genommen hatte.
"Hallo, Isabelle", begrüßte er mich erstaunt und trat einen Schritt zurück, um mich ins Haus zu lassen. Seine Haare waren nass, weshalb ich vermutete, dass er eben geduscht hatte.
"Ich muss dir etwas erzählen", platzte ich sofort heraus und schlug mir dann die Hände vor den Mund, als wolle ich weitere Wörter daran hindern, ebenfalls hinauszuschlüpfen. Ein Mal hatte ich mich bereits verplappert und ein zweites Mal würde mir das nicht passieren.
Tristan blickte sich kurz um, dann nickte er und gab mir ein Zeichen, ihm in sein Zimmer zu folgen. Während wir die Treppe hinaufstiegen, überlegte ich, wie ich meinen Bericht beginnen und meine Gedanken formulieren sollte.
Aber als wir einander gegenüber auf dem Boden saßen, fielen mir keine der Satzanfänge ein, die ich mir überlegt hatte. Stattdessen fühlte sich mein Mund wieder staubtrocken an.
"Und?", fragte Tristan und Neugierde und Anspannung standen ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Pupillen waren geweitet und er hatte die Hände etwas verkrampft.
Ich leckte mir kurz über die Lippen, um sie etwas zu befeuchten, und ließ dann die Worte aus mir heraussprudeln. Während ich sprach, wurden Tristans Augen immer größer.

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