Für die Liebe

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„Sieh mal, der Paradiesvogel ist da." Ich deute auf die Tribüne, auf der Ingvi Jorid erschienen ist. Wie jedes Jahr wird er zwei Kinder aus Distrikt 8 verurteilen. Es hilft, sich über seine bunten Haare und die willkürlich zusammengewürfelte Kleidung lustig zu machen. So kann ich die Angst vergessen, die mich vor der Ernte immer ergreift. „Du zitterst ja." Besorgt greife ich nach Arturs Hand und streiche mit meinem Daumen über seine Haut. „Es ist deine letzte Ernte. Du wirst nicht gezogen werden", rede ich auf meinen Freund ein und schenke ihm ein Lächeln. Doch zu meiner Überraschung errötet Arthur diesmal nicht. „Du wirst dich nicht freiwillig melden." Als Arthur das sagt, sieht er mir tief in die Augen. Seine smaragdgrünen Augen fesseln mich auf ihre eigene Art. Sie ziehen mich magisch an. Ich nicke.

„Hallo Distrikt 8!" Ich löse mich erst vom Anblick von Arthurs Augen, als er diese auf Ingvi richtet. „Ich habe einen Film von Präsident Snow persönlich mitgebracht, den wir uns nun gemeinsam ansehen werden." Ich sehe nicht auf die riesige Leinwand, schließlich kenne ich nach all den Jahren jede Szene auswendig. „Ob es in Frankreich wohl auch solche Propagandafilme gibt?", überlege ich laut. „Wenn es welche gibt, sind deine Großeltern sehr intelligent gewesen. Normalerweise sollen diese Filme die Bewohner eines Landes doch daran hindern auszuwandern." „Wer bleibt denn bitte in einem Land, in dem sie einen rund um die Uhr kontrollieren?" „Stimmt. Hier in Panem ist es viel besser", entgegnet Arthur in seinem gewöhnlich sarkastischen Ton. „Ich hoffe, ihr habt den Film genauso sehr genossen, wie ich, sodass wir uns jetzt der Ernte widmen können." Arthur und ich richten unsere Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Ingvi geht mit lässigen Schritten zu der Schale, in der die Lose der Mädchen darauf hoffen, nicht gezogen zu werden. Ingvi greift in das Meer der Zettel und zieht ein Los heraus. Er tritt zurück an sein Mikrofon und verkündet den Namen des Mädchens, das dieses Jahr für Distrikt 8 in die Hungerspiele ziehen wird. „Meine Damen und Herren, endlich kann ich den Namen derjenigen verkünden, die sich dieses Jahr gegen die Vertreter der anderen Distrikte behaupten darf." Ingvi macht eine kurze Pause und lächelt in die Runde.

„Sophie Aaltje!" „Ist das nicht die Dramaqueen?", fragt Arthur mich leise. Noch bevor ich etwas erwidern kann, beantwortet Sophie Arthurs Frage selbst. „Lena! Ich liebe dich!", brüllt sie in die Menge und wirft einem Mädchen, das niemand kennt, einen Luftkuss zu. „Ja, genau die." Jeder kennt Sophie, oder zumindest ihren Vater. Roderich Aaltje hat es geschafft, seine Familie aus der Armut zu befreien. Meine Eltern waren dabei, als Roderich damals ein Lied gesungen hat, während er in der Textilfabrik arbeitete. Ein Abgeordneter des Kapitols war genau in diesem Moment an ihm vorbeigegangen. Zu Roderichs Glück war der Mann begeistert und schon bald konnte man Roderichs Komposition im ganzen Kapitol hören. Heute ist Roderich ein berühmter Pianist und der Vater von Sophie Aaltje, die immer alles versucht, um im Mittelpunkt zu stehen. Gerade steigt sie auf die Bühne und geht zu Ingvi. „Wie alt bist du, Sophie?" „Ich bin 15 Jahre alt." „Ist Lena deine Schwester?" „Nein! Lena und ich waren immer beste Freundinnen. Aber ich liebe sie und deshalb bin ich froh, dass ich und nicht sie für die Hungerspiele ausgewählt wurde." „Dann wollen wir uns jetzt mal anschauen, wer dein Mittribut sein wird." Mit diesen Worten geht Ingvi zu der Schale, in der sich die Jungenlose befinden. Während Ingvi einen Zettel zieht, verstärkt sich Arthurs Griff um meine Hand. Ingvi geht zurück zu seinem Mikrofon. Arthur beißt sich auf seine Unterlippe. Normalerweise würde ich das sexy finden, doch heute steht Arthurs Angst zu sehr im Kontrast dazu. Schweißtropfen bilden sich auf Arthurs Oberlippe. „Der Junge, der dieses Jahr Distrikt 8 bei den alljährigen Hungerspielen vertreten wird, ist..." Nun spüre auch ich die Anspannung in meinem Magen. Es ist ein unangenehmes Kribbeln, das Übelkeit gleicht. Ich verkrampfe mich und wappne mich für Ingvis nächsten Worte.

„Arthur McDwyn!" Geschockt sauge ich die Luft ein. Das kann doch nicht wahr sein... Arthur will seine Hand aus meiner ziehen, doch ich halte ihn fest. „Ich melde mich freiwillig!" Sobald ich die Worte ausspreche, wird mir bewusst, was sie bedeuten. Ich werde in einer Arena gegen dreiundzwanzig andere Jugendliche kämpfen. Vermutlich werde ich in einigen Wochen nicht mehr leben. Werde ich Arthur jemals wiedersehen? „Arschloch!" Arthur funkelt mich wutentbrannt an. „Kein Angst, Süßer. Ich werde dir treu bleiben und nach den Spielen werden wir endlich heiraten." Bevor Arthur protestieren kann, küsse ich ihn. Ich lege alles Unausgesprochene in diesen Kuss. Als mir bewusst wird, dass ich zur Bühne gehen muss, löse ich mich von Arthur. Nervös gehe ich zur Bühne. Mit jedem Schritt entferne ich mich weiter von Arthur, dessen verletzter Blick auf mir ruht. Ich schaue auf und sehe mich auf einer der Leinwände. Meine blonden Haare sind zerzaust. Wahrscheinlich ist das Arthurs Schuld. Schnell binde ich die Mähne zu einem Zopf zusammen, bevor ich die Bühne betrete.

Die Blicke der Bewohner von Distrikt 8 ruhen auf mir. Freuen sie sich gerade, dass sie nicht gezogen wurden oder bemitleiden sie mich? „Wie heißt du?", wendet sich Ingvi an mich. Er mustert mich misstrauisch. Anscheinend weiß er noch nicht, was er von mir halten soll. „Mein Name ist Francis Vallee." Beim Klang meines französischen Akzents zucken Ingvis Augenbrauen. „Gut, Francis. Dann verrat uns mal dein Alter." „Ich bin 18 Jahre alt." „Ist Arthur dein Nachbar?" „Nein. Arthur ist mein Verlobter. Ich liebe dich Arthur und ich werde dich heiraten, sobald ich aus der Arena wieder raus bin!" Ingvi lächelt in die Menge. „Das war eine deutliche Kampfansage. Wir wünschen unseren diesjährigen Tributen viel Glück für die Spiele und die Liebe. Möge das Glück stets mit euch sein!"

Blut schmeckt salzig Rache ist süß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt